Zu Hause reden wir platt

Gehard Möller/ im Gespräch

Seit fast vier Jahren nun ist Gerhard Möller Oberbürgermeister a. D. Aber so ganz außer Dienst ist der gefragte Mann natürlich nicht. Als Vorsitzender der St. Antonius-Stiftung versucht er, seine kommunalpolitische Erfahrung und persönliche Integrität zugunsten von Menschen einzubringen, die es nach wie vor schwer haben, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Das Kürzel a. D. kann also auch so gelesen werden, dass er einen antonius Dienst ausübt. Im SeitenWechsel-Interview spricht er von seinem Werdegang, von der Fuldischen Mentalität und vom Wechsel der Perspektive, den seine neue Aufgabe mit sich bringt.

 

Herr Möller, Sie sind ein echter Rhöner Jung, aufgewachsen im Schatten der Ebersburg, in Weyhers. Was tat Ihr Vater beruflich?

Er hatte einen kleinen Malerbetrieb und eine Nebenerwerbslandwirtschaft. Die Familienmitarbeit war immer eingeschlossen, sowohl im Betrieb als auch in der Landwirtschaft.

 

 

Also war Ihnen die Malerrolle ebenso vertraut wie der Melkschemel?

Es waren eher Hilfsdienste, die ich erbringen musste: Tapete einkleistern, Fenster auskitten etc.

 

 

Weil Ihr Vater schnell merkte, dass der Junge andere Talente hat? 

(lacht) Nein, ich wäre weder aus eigenem Antrieb noch von meinen Eltern aus den Weg gegangen, den ich gegangen bin. Ich war der einzige in der Familie, der auf die höhere Schule ging, und dies, weil der Pfarrer und die Grundschullehrerin darauf drängten. So wechselte ich ins Domgymnasium und kam dort in die sogenannte B-Klasse. Das waren die vom Land, in der Mehrzahl Landwirtssöhne oder Kinder von mittleren Angestellten. In die A-Klasse kamen die Söhne des gehobenen Bürgertums aus der Stadt. Die waren viel selbstbewusster, hatten schon Mädchenfreundschaften, spielten im Orchester mit. Als es sich dann in der Oberstufe mischte, haben wir schnell gemerkt: Die kochen auch nur mit Wasser.

 

 

 

Der Gang aufs Gymnasium war Ihr erster Schritt in die Stadt, in der Sie später Oberbürgermeister werden sollten. Was waren Ihre Eindrücke?

Als Domgymnasiast habe ich die Stadtentwicklung sehr sinnfällig miterlebt. Damals ist Karstadt gebaut worden. Wir hatten die Eckklasse vom Gebäude und konnten in die Tiefgarage sehen. Oder wir mussten einen Besinnungsaufsatz über den neuen Brenninger-Brunnen schreiben.

 

 

Begann Ihr Interesse an Politik schon in der Schulzeit? 

Ja. In der Oberstufe gab es dann sogar einen politischen Arbeitskreis. Da trafen wir uns regelmäßig auf freiwilliger Ebene. Auch Rudi Karras war dabei. Das waren interessante Diskussionsabende mit Themen wie Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, den Klassikern dieser Zeit eben

 

 

Das war um 1968 herum. Sie gelten aber nicht gerade als Alt-68er.

Nein, ich war einer von der anderen Sorte (lacht).

 

 

Haben die Diskussionen Ihr politisches Profil geschärft?

Es herrschte eine politisierte Atmosphäre in Gänze. Prägend war bereits der Bau der Mauer in 1961, da waren wir in der Unterstufe. Alle Fuldaer Schulen trafen sich zur Großdemo am Domplatz. Wir haben das intensiv wahrgenommen, auch die Kubakrise. In meine Bundeswehrzeit fiel dann die Krise um Berlin, als die Sowjets während der  Bundespräsidentenwahl 1969 die Verkehrswege störten. Ich war in Göttingen stationiert und als wir Ausgehverbot bekamen, merkten wir: So abstrakt ist das alles gar nicht.

 

 

Sie haben einmal gesagt, dass Ihnen das Konkrete mehr bedeutet als das Abstrakte. Wurde Ihnen das ideologische Denken damals suspekt? 

Da müssen sie relativieren. Bis heute bin ich auch an den theoretischen Grundlagen von Politik interessiert. Aber wenn man lange in der politisch-administrativen Praxis arbeitet, weiß man, dass es auf kommunaler Ebene am Ende immer ums Konkrete geht und nicht um abstrakte Grundsätze. Ich bin gegen politische Missionare, die nur mit Grundüberzeugungen auf den Marktplatz gehen. Wenn es um Konkretes geht, muss man Kompromisse schließen. Die eigene Position ist nie die allein selig machende. Ich muss auch andere gelten lassen, was nicht ausschließt, für die eigenen Grundüberzeugungen zu streiten.

 

 

Was bewog Sie, nach Ihrem Jurastudium nach Fulda zurückzukehren? 

Ich habe hier das Referendariat gemacht. Nachdem ich mehrere Stationen durchlaufen hatte, wurde mir klar, dass ich gerne in die Verwaltung gehen würde. In dieser Zeit war ich CDU-Vorsitzender in der neuen Großgemeinde Ebersburg, das war mit 25 relativ ungewöhnlich. So kam ich in den Kreistag. Da haben wir uns als Gruppe von Jüngeren in der CDU-Fraktion bemerkbar gemacht. Das Mandat musste ich niederlegen, als ich beruflich beim Landkreis anfing. Als der dritte Mann der Kreisverwaltung, Dr. Pöpperl, überraschend starb, wurde ich ins Wasser geworfen. Ich übernahm die Schulabteilung und bewegte mich als Amtsleiter auch ständig im Grenzbereich von Verwaltung und Politik. Als Karl Staubach aufhörte, bewarb ich mich um dessen Nachfolge und wurde mit 36 Jahren Erster Kreisbeigeordneter mit der breitesten Zuständigkeit von Personal über Soziales bis hin zu Kreisstraßen, knapp 17 Jahre lang. Dann kam völlig überraschend der Wechsel zur Stadt. Mit dem Gedanken hatte ich nicht im Entferntesten gespielt. Das hat mich schlaflose Nächte gekostet, aber ich habe es nie bereut.

 

 

Sie sind Fulda stets treu geblieben. Was verstehen Sie persönlich unter Heimat?

Heimat – das sind die Menschen, die Familie, aber auch die Landschaft. Meine Frau und ich sind begeisterte Wanderer und erkunden insbesondere die Rhön in allen Facetten. Auch die Sprache gehört dazu. Zuhause reden wir Platt. Es ist also ein kleines Gesamtkunstwerk zwischen Menschen, Landschaft und Sprache. Dazu kommt natürlich die Geschichte. Wenn ich heute in die Rhön hinausfahre, gibt es überall Bezugspunkte. Auch hier in der Stadt. Ich kann sehen, was sich durch das dreißigjährige Wirken verändert hat. Die Wiedervereinigung war natürlich ein Jahrhundertereignis. Ich war für die Grenzöffnung zuständig, für die Schaffung von Straßen und Wegeverbindungen.

 

Gibt es etwas, das für den Fuldaer Raum besonders kennzeichnend ist? Bischof Dyba hat mal den Begriff „fuldamental“ geprägt. Ist da etwas dran? 

Es ist schon so, das die Fuldaer, Rhöner und Vogelsberger nicht so schnell auf jemanden zufliegen. Sie sind abwartend, skeptisch – aber nicht ablehnend. Wenn sie dann zu jemandem Vertrauen gefasst haben, reicht das tiefer und ist beständiger als etwa bei einer Rheinischen Frohnatur. Auch der starke Heimatbezug ist für den Fuldaer kennzeichnend. Junge Menschen, die beruflich und privat erst mal hinaus in die Welt gehen, kommen gerne zurück. Bei vielen Referendaren habe ich erlebt, dass sie nur nach „Hessisch-Sibirien“ kamen, weil es hier freie Plätze gab. Dann sind sie nicht mehr weggegangen, weil sie so verankert waren. Das kommt auch von der Überschaubarkeit her, die mit Weltoffenheit zusammengeht. Wir leben nicht abgekapselt, rennen aber auch nicht jedem Modetrend hinterher. Natürlich mischt sich das heute, weil die Bevölkerung stark wächst. Fulda wandelt sich. Real haben fast 30 % einen Migrationshintergrund, 12 % sind statusrechtlich Ausländer. Trotzdem bleibt Fulda unverwechselbar. Ich glaube nicht, dass in jeder Bischofsstadt eine Wallfahrt mit 1000 Leuten stattfindet, um einen neuen Bischof von seiner alten Herkunft in das neue Bistum zu begleiten. Auch das macht das Fuldische aus. Die Leute von außerhalb denken oft, bei jedem Fuldaer steht der Stempel „katholisch“ drauf. Dabei sind es rund 50 %. Es sind halt Stereotype: Dom = Barockstadt = katholisch. Es ist gut, dass wir diesen Nimbus haben, aber Fulda darf nicht stehenbleiben.          

 

So wie antonius permanent Veränderungen aufnehmen muss, ist das auch hier der Fall. Zum Beispiel mit der Frage: Wie gehen wir mit Muslimen um? 

Obwohl manche Organisationen kritisch zu hinterfragen sind, hatten wir immer ein gutes Verhältnis zu den örtlichen Gemeinschaften. Auch da muss man eine Offenheit haben.

 

In unserem Gespräch sind wir biographisch im Jetzt angekommen. Nach Ihrer Tätigkeit als OB übernahmen Sie den Vorsitz der St. Antonius-Stiftung. Das war ein echter Seitenwechsel.

antonius ist mir schon aus der Zeit als Leiter des Schulamtes bekannt, dann verdichtet als Kreisbeigeordneter. Als Sozialdezernent muss man alle Wohlfahrtsinstitutionen gleichermaßen berücksichtigen und zugleich die Restriktionen auf Seiten der Finanzen im Auge behalten. Der Radarschirm musste allumfassend gespannt sein. Herr Sippel hat es immer gut verstanden, einen in verschiedener Weise miteinzubeziehen. Es gab auch Kontroversen, die dem unterschiedlichen Blickwinkel geschuldet waren. Eine interessante Konstellation war die Stadtwette. Die hat er sehr geschickt inszeniert, weil klar war, dass der Ausgang der Wette mit meiner Pensionierung zusammenfällt (lacht). Danach kam die Anfrage, ob ich mir vorstellen könnte, in der Stiftung mitzumachen. Natürlich ist meine Sichtweise als Vorsitzender der Förderstiftung jetzt eine andere, als wenn ich noch OB wäre. Ich setze mich für Projekte ein, und dies ist ein Wechsel der Perspektive zugunsten derer, die der Unterstützung bedürfen.

 

Es gab eine Sitzung, in der es um die Finanzierung eines Projektes ging, da konnten wir erleben, dass Gerhard Möller auch mal auf die Politik schimpfen kann. Uns wurde deutlich, dass er jetzt wirklich das Lager gewechselt hat.

Ich hatte angeboten, wenn es aus Sicht von antonius hilfreich sein könnte, den Gesprächsfaden mit der Politik nochmal aufzunehmen. Das mache ich gerne, allerdings auch hier immer mit der aus der Erfahrung gewonnen Erkenntnis dessen, was der anderen Seite möglich ist: An welchen Stellen können sie helfen, an welchen Stellen haben sie mehr Luft? Ich versuche in Kenntnis der Sichtweise der anderen auszuloten, inwieweit die Bandbreite des Wohlwollens ausgedehnt werden kann. Dabei bin ich nicht der Vertreter der Stadt, sondern sozusagen Assistent von antonius.

 

Würden sie aus jetzigen Sicht manches in der Sozialpolitik anders beurteilen?

Vielleicht wäre mancher Umweg, der beschritten wurde, nach den Erkenntnissen von heute direkter anzugehen gewesen, etwa bei der Frühförderung. Manches entwickelt sich auch erst. Hinzu kommt die gesellschaftliche Diskussion, wie der Inklusionsgedanke. Alle Entscheidungen erfolgten stets unter dem Diktat sparsamer Finanzen. Der heutige Haushalt der Stadt ist mit dem damaligen nicht zu vergleichen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe in Gänze auf die örtliche Ebene verlagert worden wäre, allerdings mit anderen Voraussetzungen. Jetzt ist es ein Dauerkonflikt mit dieser gespaltenen Zuständigkeit. Ich sehe mit großer Skepsis, was die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes für antonius bringen wird. Da kommen Aufgaben auf uns zu, die man noch gar nicht abschätzen kann.

 

In Ihrer Bewerbungsrede zum OB im Jahr 2003 haben sie gesagt: „Die soziale Temperatur einer Stadt wird durch gemeinnützigen Organisationen in der nötigen Höhe gehalten.“ Es klang so, als regelten Kirchen und Institutionen alleine die soziale Temperatur. Ist es nicht auch direkte Aufgabe der Stadt, diese zu beeinflussen? 

Vielleicht habe ich es nicht so ausgedrückt, aber es war genau so intendiert. Einmal, dass man die Organisationen hinsichtlich ihrer Unterstützungsleistungen wertschätzt. Auf der anderen Seite auch so, dass Stadt und Land die Aufgabe haben, deren Entwicklungen zu begleiten. Man darf die Stadt nicht als Maschine verstehen, die nur dafür sorgt, dass die Gewerbesteuer fließt. Keiner in einer Kommune kann sagen: „Mein Zweck ist der allerwichtigste!“ Ich habe immer versucht zu sagen: Als Stadt sind wir auch für die zuständig, die keine Lobby haben. Deren Bedürfnisse dürfen nicht vergessen werden.

 

Bürger wollen sich heute nach wie vor engagieren, aber sie tun es nicht mehr ausschließlich über Vereine. Müssen die Kommunen in Zukunft umdenken, damit auch kleine, vor Ort entstandene Strukturen unterstützt werden können? 

Das ist nicht einfach zu beantworten. Auf der einen Seite wollen wir zivilgesellschaftliches Engagement fördern, auf der anderen Seite schrauben wir die Ansprüche an Professionalität hoch. Das Ehrenamt kann diese Anforderungen oft nicht erfüllen, da gibt es ein Spannungsverhältnis. Beispiel Kleinkindbetreuung. Im Dorf waren früher die Verwandten oder die Geschwister dafür zuständig. Heute führen unsere Rechtsansprüche zur Forderung, dass Erzieherinnen entsprechend ausgebildet sein müssen, sogar auf akademischem Niveau. Andererseits gibt es die kleine Lösung, etwa die Tagesmutter, die drei oder vier Kleinkinder betreut. Oder ich denke an Ebersburg, wo sich ein Verein gegründet hat, der sich um die Integration von Flüchtlingen kümmert oder Seniorenarbeit leistet.

 

Muss man die Forderung nach ständig steigender Professionalisierung nicht in Frage stellen? Wir wissen auch von antonius, dass es nicht immer darum geht, die am besten ausgebildeten Leute zu bekommen, sondern die Besten, und das hat viel mit Haltung und Herz zu tun.

Die Frage ist: Wie viel Freiraum lässt die Gesellschaft zu? Wenn ein Fehler passiert, wird sofort die Frage gestellt: War die Aufsicht da? Waren die Voraussetzungen erfüllt?  Die Versicherungsgesellschaft kommt mit Anforderungsprofilen, was für die Politik Anlass ist, an dem Schräubchen weiterzudrehen. Was brauche ich also an Professionalität einerseits und an Persönlichkeitsprofil andererseits, um eine soziale Aufgabe wahrzunehmen?

 

Zum Ausklang noch eine leichte Frage: Sie sagten, Ihre Hobbys seien Lesen und Wandern. Verraten Sie uns Ihr Lieblingsbuch und Ihren Lieblingsberg?

Oh, das wird schwierig. Lieblingsbuch: Siegfried Lenz habe ich ziemlich komplett gelesen, Rosendorfer, auch Lyriker, Ulla Hahn zum Beispiel. Es fällt mir schwer, da eine Zuspitzung hineinzubringen. Lieblingsberg: Die Milseburg fällt einem natürlich sofort ein, aber auch da muss man sogleich relativieren. Auch der Schafstein ist schön, der Stellberg auch. Aber die Milseburg muss man im Laufe eines Jahres mehrfach bestiegen haben – mit Frühstück unterm Gipfelkreuz. Das ist klar.

 

 

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