Willkommen in Gersfeld

In Gersfeld wohnen 5500 Einwohner und etwa 210 Asylsuchende (in der Kernstadt und auf der Wasserkuppe). Damit kommt derzeit ein Flüchtling auf 26 Gersfelder. 

Das ist einzigartig im Landkreis. Was für viele Gemeinden ein unvorstellbares  Szenario bedeuten würde, ist im Rhönstädtchen gut bewältigter Alltag – vor allem dank vieler Bürger, die sich nicht wegducken, sondern ihre Hand ausstrecken.

Wilkommen in Gersfeld

„Anfang letzten Jahres konnte man beobachten, dass es hier immer etwas farbiger wurde“, erinnert sich Sieglinde Böllert-Abel, „aber so viel habe ich mir da noch nicht gedacht“. Doch bald wurde sie auf den „Freundeskreis Asyl Gersfeld“ aufmerksam, der sich bereits gebildet hatte, und erfuhr so vom großen Handlungsbedarf. Nachdem Frau Böllert-Abel die letzten 20 Jahre im sozialen Bereich gearbeitet hatte, wollte sie ihren Ruhestand gemeinsam mit ihrem Mann eigentlich mit anderen Dingen verbringen. Weil aber unter den Flüchtlingen auch viele alleinerziehende Mütter sind, die im fremden Land einen harten Kampf ausfechten, wird ihr schlagartig klar, dass sie als ehemalige Sozialarbeiterin wesentliche Kompetenzen mitbringt.

Über den Freundeskreis wird der Kontakt zu einer jungen Mutter aus Eritrea angebahnt, die frisch in der Flüchtlingsunterkunft, dem „Hotel Horizont“, gestrandet ist. Mit drei kleinen Kindern im Schlepptau und ohne jede deutsche Vokabel muss sie Behördengänge und Arztbesuche managen. Mit vier Personen in einem Zimmer gibt es keine Rückzugsmöglichkeiten, um den im Deutschkurs vermittelten Stoff vertiefen zu können. Ein erstes zwangloses Treffen wird am Spielplatz arrangiert. Frau Böllert-Abel und ihr Mann Gerold Abel wissen, dass sie mit sprachlichen Mitteln nicht weit kommen werden, aber Berührungsängste sind ihnen fremd: „Dann gucken wir doch einfach mal!“

Die erste Fremdheit verfliegt rasch. Gerold Abel bespaßt die beiden Kleinsten und gerät sogleich ins Schwitzen, weil er die vierjährige Melat partout nicht davon abbringen kann, vom Spielplatzturm herunterzuspringen. Gleichzeit muss er deren kleinen Bruder Yafet im Auge behalten. Das Mädchen setzt sich durch, landet etwas hart, rast aber sofort zum nächsten Spielgerät.  Dem Herzen nach sind die Kinder sogleich adoptiert: Sich den strahlenden dunklen Kinderaugen und dem entwaffnenden Lächeln widersetzen zu wollen wäre ohnehin zwecklos. „Irgendwie haben wir uns gleich verliebt in die Mäuse“, gesteht Frau Böllert-Abel, „und die Mutter war sofort dankbar, dass jemand da war“. „Wir sehen ja auch vertrauenswürdig aus“, fügt ihr Mann schelmisch hinzu.

Es folgt eine Essenseinladung nach Hause, man bekommt ein Gefühl für einander, Handlungsfelder zeichnen sich ab: Der Schulbesuch für die große Tochter wird eingefädelt, ebenso ein Kindergartenplatz für Melat. Weil diese zunächst nicht alleine im Kindergarten bleiben will, verbringen die engagierten „Großeltern“ ebenfalls ganze Vormittage dort. So wächst das Vertrauen weiter, und nun gehen die beiden Kleinen bereits zum Mittagsessen mit nach Hause – nehmen deutsche Kultur und Küche auf, lernen aber auch, bestimmte Regeln einzuhalten. Als das kleine Mädchen im Kindergarten mit dem Roller stürzt und ein Zahn locker ist, fahren die Abels sofort zum Zahnarzt, auch ohne Rücksprache mit der Mutter, denn diese weiß ihre Kinder in besten Händen. „Mama“ und „Papa“ sagt die junge Mutter zu den beiden, wie viele der anderen oft noch jugendlichen Asylsuchenden auch. Man spürt, wie sehr ihnen ihr Familiennetz fehlt, zumal „Familie“ in der zurückgelassenen Kultur einen Stellenwert hat, den wir hier so nicht (mehr) kennen. „Mama“ und „Papa“ allerdings will das Ehepaar Abel nicht genannt werden, „Oma“ und „Opa“ passt besser, sagen sie.

„Es sind unsere beiden Enkel auf Zeit“, sagt Herr Abel. Ganz plötzlich können solche aufgebauten Beziehungen wieder zerstört werden, etwa wenn Flüchtlinge abgeschoben oder „weitergeleitet“ werden. Damit muss man leben. Freundschaft mit Verfallsgarantie. Wer selbst nie in der Fremde war, sieht im Fremden meist nur den Fremdkörper innerhalb der vertrauten Welt. Der Blick senkt sich beim Vorübergehen aufs Trottoire, Austausch unerwünscht.

Die umgekehrte Erfahrung machte das Ehepaar Martiny, das mehrere Jahre im kirchlichen Dienst  in Tansania verbrachte. „Das unterscheidet uns von vielen Gersfeldern: irgendwo anders gelebt und überhaupt nur Bahnhof verstanden zu haben.“ Während ihres Aufenthaltes erfuhren sie enorme Unterstützung, um ins Land hineinzufinden. Oft sind es nur kleine Tipps, die Orientierung bieten: „Geh mal hier hin“, „sei vorsichtig dort“ , „versuch es mal auf diese Weise“. Frau Martiny zieht eine klare Bilanz: „Wir sind dort nie so behandelt worden, wie die Flüchtlinge oft hier behandelt werden.“

Weil sie aus ihrer Erfahrung heraus wissen, wie enorm fremd unsere Kultur und unsere Institutionen auf einen Menschen aus Äthiopien wirken müssen, gründeten sie mit anderen Mitstreitern den Freundkreis Asyl. Sprachbarrieren zu überwinden war lange Zeit die primäre Aufgabe der Initiative, vor allem die Übersetzung der in knallhartem Amtsdeutsch verfassten Anschreiben, in denen es um Formalitäten und Statusänderungen bezüglich der Aufenthaltserlaubnis geht. Diana Helfrich, die mit Verve Sprachunterricht für die in Gersfeld und auf der Wasserkuppe angesiedelten Flüchtlinge gibt, bekennt, trotz ihrer großen Vertrautheit mit der deutschen Amtssprache an solchen Anschreiben zu scheitern. Auch schildert sie Erfahrungen von Flüchtlingen, die stundenlang vergeblich auf dem Flur des Fuldaer Landratsamtes warteten, weil an der Tür des Büros, zu dem sie bestellt waren, nur ein deutscher Aushang hängt, der über die Erkrankung des Mitarbeiters informierte. Aber gerade weil die Kreis- und Gemeindeverwaltungen vom Flüchtlingsstrom überrannt werden und an ihre Grenzen gelangen, sind Initiativen wie in Gersfeld unverzichtbar. Es gibt sie auch in Schmalnau und Weyhers. Vor allem auch in Bereichen, die die Lebensqualität und die soziale Einbindung betreffen, ist privates Engagement extrem hilfreich: Kontakte zum Sportverein herzustellen, einen Schwimmkurs für Kinder anzubieten, einen Kleiderbasar zu veranstalten, ausgediente Kinderwägen oder Fahrräder aufzutreiben. Doch am wichtigsten ist natürlich die Bereitschaft zur persönlichen Begegnung sowie eine gesunde Neugier auf den Kontakt mit Menschen aus einem fremden Kulturkreis.       

Es läuft in Gersfeld. Auch von Amts wegen. Verständigungsschwierigkeiten? „Wir können Englisch!“, gibt der Abteilungsleiter des Bürgerbüros, Dietmar Gutmann, zu Protokoll. Und: „Wir wissen damit umzugehen!“ Seinem Eindruck nach ist das Flüchtlingsthema in Gersfeld nicht negativ besetzt. Eher umgekehrt: „Die meisten Gersfelder stehen der Sache positiv gegenüber und gehen die Sache mit Wohlwollen an.“

Was aber immer noch fehlt, so die Martinys, ist, dass noch mehr Gersfelder sagen: „Ach, ich lad mal jemanden ein oder unternehme etwas mit den Gestrandeten, damit diese Fremdheit überwunden wird – mit dem Riskio natürlich, dass das, was dann zusammenwächst, nicht von Dauer ist. Und dass es auch mal schiefgehen kann. Das gehört dazu.“ Helfende Hände und offene Ohren sind im Freundeskreis jederzeit willkommen. Und letztendlich kommt auch immer etwas zurück. „Im Laufe der Zeit“, so Sieglinde Böllert-Abel, „ haben wir gemerkt, dass wir mehr beschenkt werden, als wir vielleicht geben können.“

von Arnulf Müller

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