Wenn Grenzen überschritten werden
„Sexualität ist etwas ganz Natürliches.“ Torsten Wiegand, Sexualberater bei pro familia, zitiert häufig diesen Satz von Marilyn Monroe, weil er aus beruflicher Erfahrung nur zu gut weiß, dass mit dem Natürlichen oft gar nicht natürlich umgegangen wird. Besonders, wenn es um Menschen mit geistiger Behinderung geht.
von Arnulf Müller
Denn dass auch sie normale Empfindungen und sexuelle Wünsche haben, wird oft ignoriert, nicht selten sogar von den eigenen Eltern, berichtet Wiegand im SeitenWechsel-Gespräch. „Die Eltern sagen sich: ‚Mein Kind ist ja behindert, da darf es seine Sexualität sowieso nicht ausleben.‘ Also klären sie ihr Kind erst gar nicht auf, obwohl sie seine Selbstständigkeit auf anderem Gebiet sehr fördern.“
Das Thema ist stark von Angst besetzt. Zum einen „ist da die Urangst der Eltern, dass ihr Kind mit einem Baby maßlos überfordert sein würde – und sie am Ende selbst noch einmal Eltern wären“. Zum anderen besteht die Sorge, dass auch dieses Kind wieder eine Behinderung haben wird, obwohl das in den meisten Fällen unbegründet ist.
Torsten Wiegand, Sexualberater bei pro familia
Durch solche Ängste kommt es nicht selten zu Übergriffen: Es wird versucht, Partnerschaften zwischen Menschen, die eine Behinderung haben, zu verhindern. Das wiederum bringt die Assistenten in den Einrichtungen in die Bredouille. „Die sehen, dass der Marcus sehr gut mit der Karin zusammenpassen würde und beide das auch wollen. Aber der Vater des Jungen will es unbedingt vermeiden. Oder die Mutter zwingt ihre Tochter, die Pille zu nehmen.“ Beides ist rechtlich nicht erlaubt. „Das Selbstbestimmungsrecht steht an oberster Stelle, da gibt es kein Rütteln“, betont Wiegand.
Um in solchen Fällen die Handlungssicherheit der Beteiligten zu erhöhen, fördert das Hessische Sozialministerium Fortbildungen zu diesem schwierigen Thema. In Fulda ist es pro familia, die in die Einrichtungen der Behindertenhilfe geht. Torsten Wiegand berichtet davon, dass die Fachkräfte oft sehr dankbar für solche Gesprächsangebote sind und im Anschluss lockerer mit schwierigen Situationen umgehen können. Angeboten werden aber auch Einzelgespräche mit den Menschen, um die es geht. Diese sprechen manchmal das erste Mal über solche Dinge, die ihnen auf der Seele liegen. Und natürlich findet auch Elternberatung statt.
Viele psychische Störungen und seelische Verletzungen bei Menschen mit geistiger Behinderung resultieren daher, dass versucht wurde, ihnen ihre Sexualität vorzuenthalten. Manch merkwürdiges oder unreifes Verhalten wird vorschnell der Behinderung zugeschrieben. Schaut man sich die Fälle genauer an, wird klar, dass diese Menschen ihre sexuelle Reifung und die Entdeckung ihrer Sexualität nicht als etwas Natürliches erfahren durften. „Viele ältere Betreuer haben noch die Zeit erlebt, dass jemand bestraft wurde, wenn er sich selbst befriedigt hatte. Das ist noch nicht so lange her“, so Wiegand.
Wenn von sexualisierter Gewalt die Rede ist, denken viele an Vergewaltigung oder ähnlich massive Dinge. Diese beginnt aber schon dort, wo Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Man stelle sich einen jungen Mann in der Pubertät vor, der gewindelt und gewaschen werden muss. Aufgrund des Schichtbetriebs und der Personalfluktuation sind es am Ende zehn verschiedene Personen, die ihn im Intimbereich pflegen. Manchmal geschieht so etwas aufgrund von Automatismen, etwa wenn die Gruppenleitung unbedacht zur neuen Praktikantin sagt: „Bei ihm machst du das jetzt so und so.“ In einem solchen Fall geht es in der Beratung darum, dass der junge Mann lernt zu sagen: „Ich will das jetzt nicht!“ Und dass er in die Lage kommt, Einfluss darauf zu nehmen, wer ihn pflegt. Auch geht es darum, ihn stärker darin zu fördern, sich weitgehend selbst zu pflegen.
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Das Selbstbestimmungsrecht steht an oberster Stelle, auch beim Thema Beziehung und Sexualität
In Sachen Liebe und Partnerschaft gibt es im Praxisalltag der Einrichtungen aber auch viele gute Lösungen. Diese in der Öffentlichkeit zu kommunizieren, ist jedoch noch schwierig. Besonders beim Thema Ehe und Familie sehen viele rot. Torsten Wiegand sieht das gelassen: „Es gibt heute für alles eine Prüfung und ein Zertifikat. Nicht aber für Erziehung. Zuweilen sind auch Paare ohne Behinderung überfordert. Es ist nicht gesagt, dass das automatisch die bessere Konstellation ist. Umgekehrt gibt es Menschen, die trotz Behinderung prädestiniert dafür sind, Kinder zu bekommen. Die kriegen das mit adäquater Unterstützung prima hin.“
Oft wird vergessen, dass Menschen, die in Einrichtungen leben, in der Regel geschäftsfähig sind. Die Entscheidung über solch persönliche Dinge liegt daher allein bei ihnen selbst. Beratungen führen manchmal dazu, dass den Menschen die Schwierigkeiten bewusst werden, sodass sie dann doch auf ein Kind verzichten möchten. Aber wenn sie es wünschen, liegt es letztlich an der Verantwortung des Umfeldes, eventuelle Defizite bestmöglich zu kompensieren. Zudem gibt es ein gutes Unterstützungssystem. Am Ende geht es darum, das Natürliche in seiner Natürlichkeit annehmen zu lernen. Angst ist auch hier ein schlechter Ratgeber.