Was euch nicht umbringt, macht euch nur härter

oder: Beschämung im Schulsport, von Anna-Pia Kerber

Wo wird man öffentlich als Letzter in ein Team gewählt? Wo muss man sich für seinen Körper rechtfertigen? Wo wird man dafür ausgelacht, wenn man sich weh tut? Wo beginnt man, Notlügen zu benutzen, um der größten Beschämung seines Lebens zu entgehen? Und wo wird einem die eigene Unfähigkeit gnadenlos ins Gedächtnis geschrieben? 

Hier: im Schulsport-Unterricht.

Wo wird man öffentlich als Letzter in ein Team gewählt? Wo muss man sich für seinen Körper rechtfertigen? Wo wird man dafür ausgelacht, wenn man sich weh tut? Wo beginnt man, Notlügen zu benutzen, um der größten Beschämung seines Lebens zu entgehen? Und wo wird einem die eigene Unfähigkeit gnadenlos ins Gedächtnis geschrieben? 

Hier: im Schulsport-Unterricht.

 

Der Schulsport teilt die Gemüter in zwei Lager: in die glühenden Verfechter und in die heillos Traumatisierten. Dieser Text richtet sich – ganz unverhohlen – an Letztere. An die, denen schon vor der Sportstunde der Angstschweiß ausbrach. An die, denen der Geruch der muffigen Turnhalle Übelkeit bereitete. Und an die, die schon drei Tage vor den Bundesjugendspielen aus Angst nicht mehr schlafen konnten.

 

Ihr Lieben, hier kommt die gute Nachricht: Ihr habt überlebt! Wenn ihr das lest, seid ihr bereits erwachsen und müsst NIE wieder in den Sportunterricht! Und … seht euch an! Ihr macht euren Job gut? Ihr habt Freunde und Familie? Ihr seht blendend aus? 

Na bitte. Die Beschämung namens Schulsport konnte euch nichts anhaben. Ihr habt es geschafft. Und im besten Fall habt ihr sogar eure Freude an der Bewegung (wieder) gefunden. Ihr fahrt Rad. Geht joggen. Tanzen! Oder gehört sogar zu den coolen Typen, die im Urlaub surfen gehen. Geht doch. Denn, ihr Lieben: Wir waren keine Bewegungslegastheniker. Wir waren bloß zur falschen Zeit am falschen Ort.

 

Wie viel Wut sich bei denen angestaut hat, die im Sportunterricht vorgeführt wurden, zeigte sich beispielsweise im Jahr 2015, als etwa 21.000 Menschen eine Petition zur Abschaffung der Bundesjugendspiele unterschrieben. Ins Leben gerufen wurde die Petition von einer Mutter aus Konstanz, die empört twitterte: „Heulender Sohn kommt mit ‚Teilnahmeurkunde’ von den Bundesjugendspielen heim.“

Das kennt man. Man hat den Ball nicht weit, sondern im 90-Grad-Winkel auf den Boden geworfen, man hat beim Weitspringen die Kante übertreten und wurde beim Sprint abgehängt. Während die vermeintlich Sportlichen feierten, wünschte man sich, der Boden möge sich auftun und einen verschlucken. Warum? Weil es hier nicht um die Freude an Bewegung ging, sondern um öffentliches Bewerten. Wer nicht schnell, stark und flink genug war, bekam bestenfalls ein mitleidiges Lächeln. Was blieb, war eine vage Ahnung davon, nie im Leben zu den Coolen, zu den Schönen, zu den Erfolgreichen zu gehören.

Denn es ist etwas anderes, ob man bei einer Mathearbeit versagt oder vor aller Augen am Bock – dem grausamsten aller Turngeräte – hängenbleibt. Frontal. Mit zerdrücktem Gesicht, zerdrückten Innereien oder zerdrücktem noch Schlimmerem, je nachdem, wie hoch man gewachsen war. Dem Bock war die Größe nämlich gleich. Dem Sportlehrer offenbar auch.

Bei geistigen Leistungen waltet eine Art Diskretion: Notenhefte werden persönlich zurückgegeben, schlechte Leistungen nicht öffentlich verlesen. Wer die Vokabeln nicht weiß, war womöglich nur zu faul zum Lernen. Wer keinen vor Geist sprühenden Aufsatz geschrieben hat, hatte vielleicht nur einen schlechten Tag. 

Anders im Sportunterricht. Hier geht es um viel mehr als das Fehlen von Technik oder Kraft; hier geht es darum, wie man vor den anderen dasteht. Es geht um Positionierung und Zugehörigkeit. Bei der Mannschaftswahl wird Freundschaft plötzlich auf die Probe gestellt. Es ist, als würde die sportliche Leistung den Beliebtheitsgrad widerspiegeln. Wer mehrmals als Letzter in die Mannschaft gewählt wird, der spürt: Das Überleben des Stärker-
en, wie es gerne mit Verweis auf Darwin heißt, wird hier grausame Realität. 

 

Aber stimmt das wirklich? Wer wird am Ende überleben – die Sportskanonen oder die Brillenschlangen? Es heißt: Was dich nicht umbringt, macht dich nur härter. Und es heißt, Kinder müssten in der Schule auch negative Erfahrungen machen, damit sie auf das spätere Leben vorbereitet würden. Auch im Beruf wird es Kritik hageln, auch im Alltag wird es Probleme geben. 

 

Ihr Lieben: Seid ihr nicht härter geworden? Habt ihr euch nicht durchgeschlagen?

Natürlich habt Ihr das, denn korrekt übersetzt heißt Darwins bekanntes Zitat ja schließlich das Überleben des am besten Angepassten. Und so sind es am Ende womöglich die Ängstlichen, die sich einen guten Job gesichert haben. Die Brillenschlangen, die den Doktortitel machen. Die Moppeligen, die die heißeste Frau abbekommen. Denn: Sie sind vielleicht am Bock hängen geblieben, aber sie haben gelernt, andere Wege zu finden.  

 

Trotzdem sitzt der Stachel tief. Auch bei mir. Noch heute habe ich manchmal Albträume: Darin habe ich das Abitur doch nicht bekommen, weil ich nie zum Schwimmunterricht erschienen bin. Schwimm-
unterricht! Sich mit 14 Jahren im Badeanzug seiner Klasse zu zeigen, kann die Hölle auf Erden sein. 

Heute ist das anders. Jüngst erhielt ich von völlig unerwarteter Seite Avancen von einem ehemaligen Klassenkameraden. Vermutlich würde er heute einiges geben, um mich im Badeanzug zu sehen. Hätte mir das damals jemand gesagt … 

Ihr seht: Alles wird gut. 

Außer im Schulsportunterricht. Denn so viele Menschen die Petition unterschrieben haben, so wenig wird sich an den Methoden ändern. Statt Freude an der Bewegung, Teamfähigkeit und Vertrauen zu vermitteln, wird es weiterhin Demütigung, Vergleich und Abwertung geben. Und Teilnahmeurkunden. 

Falls ihr Kinder habt: Zeigt ihnen die Freude an der Bewegung außerhalb der Schule. Radfahren, Skilaufen, Hockeyspielen. Das Einzige, was ihr dafür tun müsst, ist Folgendes: Macht es ihnen vor. Geht raus! Und habt Spaß daran! Jeder hat den Drang nach Bewegung, und das kann euch keiner nehmen. Und macht euch keine Sorgen: Was euch nicht umbringt, macht euch nur härter.

Zurück