Von schönen Gebäuden und menschlichen Maßstäben
Die Architektin Susanne Wartzeck im Interview
Unsere Lebensentwürfe haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Dennoch bauen und wohnen wir, als ob wir die gleichen Bedürfnisse hätten wie zwei Generationen zuvor. Zeit, umzudenken und sich von überkommenen Bildern zu verabschieden, sagt Susanne Wartzeck, innovative Architektin und Präsidentin des Bundes Deutscher Architekten (BDA). Wie Architektur die Menschen wieder mehr zusammenbringen und dabei den Planeten schonen kann, erklärt sie im SeitenWechsel-Gespräch.
Wie kamen Sie darauf, eine Tischlerausbildung zu machen? Das war damals für eine Frau ja ungewöhnlich.
Ich musste nach dem Abi erst mal was anderes tun. Dieses Lernen war nichts für mich. Ich war eine gute Schülerin und bin auch gern zur Schule gegangen, aber gleich in ein Studium? Ich wollte Architektin werden, also einen männerdominierten Beruf ergreifen, der direkt mit dem Handwerk zu tun hat. Architektur wird ja auch umgesetzt und für mich war es wichtig zu wissen, wie das geht. Es war nicht einfach, in Hamburg eine Lehrstelle zu finden, obwohl sie wegen der Frauenförderung vom Senat finanziert wurde. Mein Lehrherr betrieb eine kleine Tischlerei, das funktionierte gut. Ich habe da alles machen können, von Bautischlerei bis hin zu Möbeln mit Hochglanzlacken.
Was war ihr Gesellenstück?
Oh Gott, ganz peinlich: ein Schminktisch. Da habe ich auf meinen Lehrherren gehört, leider. Ich wollte lieber ein Stehpult, aber er sagte: „Ein Schminktisch, das gibt‘s noch nicht.“ Da hatte er ja recht. Da keine Frauen als Schreiner arbeiteten, machte natürlich keiner einen Schminktisch. Es war ein achteckiger Tisch mit Schublade und bündig einliegender Klappe für den Spiegel. Vom Schwierigkeitsgrad fast ein Meisterstückchen. Ich habe ihn aber mein Lebtag nie gebraucht.
Warum verschwinden in den neuen Wohngebieten die Farben? Die „weiße Stadt“ zum Beispiel, aber auch die Einfamilienhäuser. Die Leute sind offenbar anthrazitverliebt: Dach, Fensterrahmen, Garagentor, Basaltkies, selbst der SUV. Irgendwie fehlt das Heitere. Können sie damit etwas anfangen?
Mit der Beschreibung kann ich sehr viel anfangen. Mit der Art zu bauen – da dreht sich schon ein bisschen der Magen um. Man muss natürlich sehen, dass 98 Prozent in einem Neubaugebiet nicht mit Architekten bauen. Das sind Fertighaus- oder Schlüsselfertig-Anbieter. Da sind zwar Architekten eingebunden, aber keine Freien und meist keine, die besonderen Wert auf Entwürfe legen. Ich will nicht allen Unrecht tun, aber was sie anbieten, ist vermeintlich modern. Einer Mode kann man sich nicht ganz entziehen, und so ist das auch, wenn die Leute ein Häuschen bauen. Ein Einfamilienhaus zu bauen ist eigentlich ein Wahnsinn. Es ist die Investition für eine Familie in ihrem Leben, und dann soll‘s natürlich was Anständiges und Schönes sein. Aber was ist schön? Über Schönheit wird wenig geredet. Da guckt man sich halt was an und orientiert sich an dem, was auf dem Markt zu bekommen ist – oder was der Nachbar gemacht hat. Man will auch nicht zu sehr auffallen – was bei der Architektur ja eine gute Sache wäre. So kleinere Veränderungen, die eher ein wenig Ruhe reinbringen, wären ja schön. Aber dann will man eben doch deutliche Akzente setzen, sei es durch die Dachform oder eine total schräge Gaube. Ich will das nicht abtun, da stecken ja große Sehnsüchte dahinter.
Susanne Wartzeck,
Architkektin (Büro Sturm und Wartzeck, Dipperz) und Präsidentin des Bundes Deutscher Architekten (BDA)
Kann man sagen: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, über Schönheit schon?
Ja. Was wir als schön empfinden, kann man durch Proportionslehre und psychologische Tests herausfinden. Wir beziehen uns im Maßstab komplett auf uns selbst. Alles, was aus unseren eigenen Körperproportionen erwächst, empfinden wir als harmonisch und schön. Wir übertragen diese Maßstäbe ins Äußere. Die gesamte Natur folgt einer Harmonielehre. Deswegen würde ich sagen, über Schönheit kann man schon streiten, weil es etwas Verlässliches gibt, von dem man es herleiten kann. Wir können begründen, warum ein geschultes Auge etwas als störend empfindet. Aber oft ist niemandda, der es prüft. Deswegen gibt es Auswüchse, wo man sich fragt: Wie ist so eine Fassade entstanden?
Wäre eine verpflichtende Initialberatung für Bauherren sinnvoll?
Absolut. Damit sie sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Viele kaufen sich ein Haus wie eine Klamotte. Das steht dann oft beliebig auf dem Grundstück, ohne dass sich einer Gedanken gemacht hat: Wo möchte ich nachher sitzen, wie ist die Sonnenausrichtung, wo die Wetterseite? Ist die Haustür an dieser Stelle wirklich gut? Das hätte früher keiner so unbedacht gemacht. Da wurde genau geschaut: Wie sitzt es im Gelände? Ist der Eingang geschützt? Beim Bauen sollte man immer vom Wohnen ausgehen. Da waren wir vor ein paar hundert Jahren mal viel weiter.
Warum gibt es Architekturen, die so unmenschlich erscheinen?
Das hat oft wirtschaftliche Gründe. Beim mehrgeschossigen Wohnungsbau würde ich sagen: Wirklich maßstäblich ist es noch bis zum vierten Stock. Das hat mal ein Professor zu mir gesagt: Wenn ich oben am Fenster stehe, muss ich mit der Person auf der Straße Kontakt aufnehmen können. Auch wieder ein menschlicher Maßstab. Ich kann die Kinder zum Essen rufen oder dem Postboten sagen: „Ich komme runter, es scheint abgeschlossen zu sein.“ Trotzdem kann natürlich ein Hochhaus auch elegant wirken und in der Stadtsilhouette wertvoll sein
In einem Zeitungsartikel steht: „Aktuell werden fünfzehn Bauplätze ausgewiesen. Der Bürgermeister begrüßt das, um junge Familien glücklich zu machen“. Was denken Sie, wenn Sie das lesen?
Erst mal denke ich daran, dass unser Ziel, deutlich weniger Boden zu versiegeln, damit gewiss nicht erreicht wird. Es sind ja nicht nur die Häuser, es ist auch die Infrastruktur. Wenn ich Bauland ausweise, kommt einiges zusammen. Das Ziel, täglich in Deutschland nicht mehr als 30 Hektar zu verbrauchen, wird seit Jahrzehnten überschritten. Im Moment sind es 58 Hektar am Tag! Es wäre angesagt – auch mit Blick an die Ahr – einfach zu sagen: Wir versiegeln gar nichts mehr neu. Europa ist doch schon bebaut, wir haben kein Bevölkerungswachstum, dem wir gerecht werden müssen. Wenn meine Generation der Babyboomer mal abtritt, sind wir noch weniger. Wir brauchen nicht immer mehr. Und dann denke ich: Glauben die Menschen immer noch an diese Familien- und Lebensform? Mehr als 50 Prozent der Ehen in Deutschland werden geschieden. Warum redet keiner darüber und denkt auch mal über andere Lebensformen nach, bei denen es einfacher wäre, sich zu trennen?
Also im Neubau gleich die Trennwand einplanen?
Oder zumindest, statt so klein zu bauen, in Gemeinschaften zu denken, wo mehrere Familien in einem Gebäude leben. Man hat nur eine Heizung, eine Lüftungsanlage, einen Hausanschluss. Man könnte Sachen sparen und wäre flexibel. Wenn eine Familie auszieht, zieht eine andere ein. Klar, das kann man im Einfamilienhaus auch. Aber genau das ist der Punkt, um den sich zusätzlich gestritten wird. Weil man sich so hoch verschuldet hat, dass man schier nicht weiß, wie man das wieder auseinanderkriegt. Oft wird dann verkauft, weil es nicht zu lösen ist.
„Um eine Siedlung als angenehm zu empfinden, müssen sich die Häuser ähneln.“
„Die Leute haben aber das Prinzip nicht verstanden.“
Warum will die junge Generation trotzdem wieder so ein Kleinst-Schlösschen?
Das Wohnen ist ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken. Deswegen muss man damit vorsichtig umgehen und die Wünsche auch ernst nehmen. Aber ich fände es schön, wenn wir einen gesellschaftlichen Dialog hätten zu diesen Themen. Warum sprechen wir nicht darüber, wie oft solche Sachen scheitern? Ist es heutzutage wirklich noch das Richtige? Und haben wir nicht genug Einfamilienhäuser gebaut? Hier in Dipperz gibt es das alte Neubaugebiet, welches zusehends überaltert. Da leben teilweise nur ein bis zwei Personen in riesigen Häusern, die sich mit ihren Gärten herumplagen. Da wäre eigentlich Platz für junge Familien. Hierfür brauchen wir neue Lösungen. Es gibt Bürgermeister, die da Vorreiter sind, die über Tauschbörsen schauen, wo junge Familien ältere Gebäude weiternutzen könnten, und die auch nach Lösungen für die älteren Leute suchen, die ja am Ort bleiben wollen. Die sind in Vereinen engagiert, haben hier ihr soziales Umfeld, wären aber vielleicht in einer schönen, barrierefreien 2- oder 3-Zimmer-Wohnung glücklicher. Aber oft ist die Bindung ans Einfamilienhaus so stark, dass man es sich anders gar nicht vorstellen kann. Das hat auch mit dem sozialen Ranking zu tun: mein Haus, mein Auto, meine Jacht. Obwohl alle Erkenntnisse auf dem Tisch liegen, obwohl wir andere Lebensentwürfe als vor hundert Jahren haben, hat sich unsere Idee vom Wohnen kaum geändert.
Vererben sich die Bilder vom Wohnen auf unsere Kinder?
Davon gehe ich stark aus.
Kann es dann so schlecht sein?
Die Bilder entspringen einer ganz eingeschränkten Erfahrung. Man hat in meiner Generation kaum etwas anderes mitbekommen. Ich kenne Menschen, die vor zehn Jahren begannen, in größeren Gemeinschaften zu leben und dort auch Kinder großzuziehen. Die Kinder, die das erlebt haben, werden später den Wunsch haben, wieder in größeren Gemeinschaften zu leben. Sie denken in größeren Zusammenhängen, weil sie die Vorzüge kennengelernt haben. Die älteren Leute im alten Neubaugebiet sind demgegenüber einsam. So zu leben ist ja nicht schön.
Konnten sie etwas von Ihren Ideen beim Projekt „Horasbrücke“ umsetzen?
Das konnten wir insofern, als die Genossenschaft eine Vielfalt an Wohnungen wollte, um eine soziale Durchmischung zu befördern. Da gibt es ein dreigeschossiges Reihenhaus, Maisonette-Wohnungen, breite flächige Wohnungen und auch ganz kleine Appartements. Alles ist durchgemischt. Es kommen Leute, die sagen: „Mensch, in so einer schönen Wohnung hätte ich schon immer gerne gewohnt: Auf zwei Etagen, fast wie ein kleines Häuschen; unten hab ich einen kleinen Garten, oben einen Balkon vor dem Kinderzimmer und alles stadtnah. Brauche ich da überhaupt noch ein eigenes Haus?“ Es gibt schöne andere Beispiele, wo genossenschaftlich eine alte Hofreite umgebaut wurde, oder wie man versucht, leerfallende Ortskerne zu revitalisieren durch Angebote mit gemischten Wohnungen. Wo man ganz divers denken kann, wo es nicht mehr darum geht, nur die Gruppe der Alten anzusprechen oder nur die Familie mit Kindern. Da können selbstverständlich auch Einzelpersonen wohnen, egal ob jung, alt oder behindert – in irgendeiner Weise ist das ohnehin jeder.
Wo Sie es ansprechen: Unterschiedliche Angebote könnten auch helfen, Menschen mit Behinderungen besser zu integrieren. Barrierefreiheit ist wichtig, aber noch wichtiger ist, ob ein Ort das Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen begünstigt. Die Erfahrung von antonius ist, dass Menschen, die im Betreuten Wohnen leben, gerne alleine wohnen möchten, um mehr Freiheit zu haben als in Wohngruppen. Oft sind sie dann aber überfordert, weil sie an ihrem Wohnumfeld kaum aufgefangen werden.
Da denke ich an tolle Hausformen aus Usbekistan, die gerade auf der Architektur- Biennale vorgestellt wurden. Die sind wie kleinste gesellschaftliche und politische Puzzles organisiert. Es sind kleine Häuser, die sich um Höfe herum gruppieren. Die Höfe selbst sind logischerweise Gemeinschaftsflächen. Die Orte bieten eine elementare Form vernünftiger Kommunikation und des Miteinanders. Man kriegt mit, ob nebenan jemand krank ist, ob der Nachbarsjunge Schwierigkeiten in der Schule hat oder dass sich zwei gestritten haben. Aus diesem Mitkriegen heraus entwickelt sich eine Verantwortung und man regelt die Dinge unter sich. Genau das ist uns verloren gegangen. Wir individualisieren uns immer stärker, auf der anderen Seite bereuen wir das, weil wir vereinsamen. Wie viel Kontakt habe ich tatsächlich zu meinem Nachbarn? Was machen wir denn zusammen? Warum nur so wenig? Passen wir aufeinander auf? Und sei es nur, dass ich weiß, wann er in den Urlaub fährt und ich ein Auge darauf habe, dass da keiner einbricht. Ich glaube schon, dass Architektur das absolut befördern kann, dass es Formen von Häusern geben könnte, die fürs Zusammenleben günstig sind, aber auch individuellen Rückzug erlauben.
Die Frage ist auch, ob die Menschen beteiligt werden. Meistens geschieht es stellvertretend: Eine Einrichtung oder ein Träger definiert, wie das Wohnen für eine Personengruppe auszusehen hat. Jene, die es betrifft, sind im Regelfall nicht mit im Spiel. Wäre beim genossenschaftlichen Bauen eine Einbindung möglich?
Man könnte ein bauliches Grundgerüst vorgeben, welches vielfältige Wohnungs- und Raumformen enthält. Dann schaut man gemeinsam mit den Menschen: Wo würdest du dich hier wohlfühlen? Was wäre dein Ort? Es gibt dann Modelle, welche man teilweise selbst mit ausbauen kann. Fürs Wohlfühlen ist es unheimlich wichtig, dass jeder etwas einbringen kann. Wo das möglich ist, gibt es kaum noch Leute, die etwas zerstören.
Schlagen im sozialen Wohnungsbau zu sehr die persönlichen Geschmacksvorstellungen der Auftraggeber durch?
Das ist durchaus so. Vorgaben und Entscheidungen zum Wohnungsbau sind geprägt von Männern über 50. Sie waren und sind oftmals die Entscheidungsträger. Lange Zeit war die andere Hälfte der Menschheit, die weibliche, nicht involviert. Das ist so, da muss man nicht drum herumreden.
Was wäre denn der weibliche Beitrag?
Das möchte ich gar nicht beschreiben, ich finde einfach, dass er fehlt. Das ist wichtig zu sehen, wenn man über Inklusion spricht: Wer entscheidet was in unserer Gesellschaft? Wer ist der Auftraggeber? Wer sagt eigentlich, wie wir wohnen wollen? Deswegen wäre es wichtig, bei einer Entscheidung möglichst viele Ideen und Meinungen zusammenzuführen. Das ist anstrengend. Auch für eine Frau ist es leichter, in der entsprechenden Situation zu sagen: „Wir machen das jetzt so!“ Aber die Erfahrung zeigt: Wenn verschiedene Aspekte einfließen, wird das Ergebnis besser. Man kommt auf andere Ideen, und es wird besser angenommen.
Also würde sich, wenn Inklusion richtig verstanden wäre, das Erscheinungsbild unserer Städte und Dörfer deutlich verändern?
Ja.
Würde eine humanere und weniger designgesteuerte Architektur entstehen?
Oder wirtschaftsgesteuerte. Mir wird manchmal angst und bange, wenn ich mir Stadtentwicklungen wie in Frankfurt anschaue. Wohnklotz an Wohnklotz ohne größere Differenzierung, ohne Gemeinschaftsstrukturen. Der Investor darf dort investieren und es ist alles da, die ganze Infrastruktur. Die hat die Gemeinschaft bereits erschaffen und bezahlt. Wir müssten ihn fragen: Was gibst du denn der Stadt zurück, wo ist dein sozialer Beitrag? Wir müssen ein Bewusstsein dafür bekommen, dass diese Menschen auch eine Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander tragen.
Gilt das nicht für jeden Bauherren, auch auf dem Dorf? Er versiegelt Flächen, nutzt die Infrastruktur, die andere errichtet haben. Müsste er nicht, wenn er schon nichts zurückgibt, wenigstens ein schönes Haus bauen?
(lacht) Absolut! Das wäre wunderbar! Die gebaute Umwelt prägt uns alle, der können wir nicht entfliehen. Zu bauen ist etwas ganz anders, als ein Buch zu schreiben oder ein Bild zu malen. Das Buch kann gelesen werden oder nicht, das Bild kann angeschaut oder abhängt werden – aber das Haus steht da erst mal und in der Regel sehr lange.
Viele fordern aber, dass jeder sein Ich frei ausdrücken können soll, ohne Rücksicht auf Nachbarn und Umgebung. Gelungener Städtebau – und das schließt Dorfentwicklung ein – funktioniert anders. Das kann man Menschen gut erklären, indem man sie ein Dorf in Form eines Modells bauen lässt. Städtebau funktioniert so, dass sich die Gebäude ziemlich gleichen müssen, damit wir das Gefühl haben, in einem stimmigen Gesamtensemble zu sein. Da gibt es zwar auch ein paar bunte Vögel, die man sich erlauben darf, etwa das Gasthaus oder die Kirche als dörflicher Mittelpunkt. Auch die Gemeinschaftsgebäude wie der Kindergarten repräsentieren etwas anderes und dürfen selbstverständlich etwas anders aussehen. Aber die Wohnhäuser sollten sich nur leicht modellieren. Wenn wir eine Ortschaft als sehr gelungen empfinden - denken wir mal an die Fachwerkstädtchen - dann zieht sich da eine Gestaltung durch. Die Häuser sind alle sehr, sehr ähnlich und haben nur kleine individuelle Markierungen. Genau das macht ein stimmiges, angenehmes Gefüge aus. Nehmen wir Venedig: Das ist bunt, aber dann doch nur rotbraun, ocker, beige und weiß. Das gibt so eine Melange. Jedes Haus hat ein bisschen einen anderen Erker, aber letztlich ergibt sich eine harmonische, wunderbare Kulisse. Das ist das, was der Mensch als angenehm, wohnens- und lebenswert empfindet.
Und das sollte auch für Neubaugebiete gelten?
Ja, jeder achtet auf den anderen. Die Leute kommen aber leider auf die wahnwitzigsten Ideen, daraus auszubrechen, weil sie das Prinzip nicht verstanden haben. Bauvorgaben, seien sie noch so eng, helfen meist nicht wirklich. Was bei so einem Neubaugebiet wesentlich dazukommt, aber immer sträflich vernachlässigt wird, ist die Freiraumplanung. Wo ist die Straße, wo der Gehweg, wie viel Grün habe ich dort? Wie viel davon ist der Gemeinschaft verantwortlich übertragen? Da sagt die Gemeinde: „Wir machen es hier schön, pflanzen drei Bäume vor euer Haus, aber ihr seid dafür verantwortlich. Und für den kleinen Weg ebenso.“ Dann sagt sich der Anlieger: „Wenn ich dafür zuständig bin, kann ich da eigentlich auch eine Bank hinstellen.“ Und so kommt Leben in den Wendehammer.
Kann dieses Aufeinanderachten auch anders geschehen als durch Verordnungen? Etwa wie in Holland, wo sich die Menschen untereinander abstimmen müssen über das, was sie bauen wollen?
Wir versuchen in Deutschland alles zu regeln, merken aber, dass wir damit an Grenzen stoßen, weil Regeln immer wieder den Willen wecken, diese zu brechen. Dieses Gen hat halt auch jeder. Der Versuch, es auszuverhandeln, wäre vielleicht eine gute Möglichkeit. Da würden die Leute merken, wie ein Kompromiss alle voranbringt. Wenn man sich die Bebauungspläne so anschaut, hat man eher den Eindruck, dass es heißt: Bloß nichts vorgeben, Hauptsache schnell die Grundstücke verkaufen! Ich glaube, wir verwechseln gesellschaftlich momentan oftmals Verbote und Gebote. Wir brauchen die Zehn Gebote – christlich gesprochen –, um miteinander klarzukommen. Daran wird keiner was deuteln wollen. Wenn aber jemand sagt: Wir fahren jetzt auf der Autobahn nur noch 130, dann ist das eine „Verbieterpartei“. Das ist Quatsch. Wir sind doch überall dabei, immer wieder auszuloten, wie wir gesellschaftlich miteinander umgehen. Ohne das geht es in einer Demokratie nicht. Wir sind schnell geneigt – und ich nehme mich da nicht aus – unser individuelles Glück über das gesellschaftliche zu stellen. Daran müssen wir stark arbeiten.
Was wären aus Ihrer Sicht die zwei wichtigsten Stadtplanungsgebote?
(denkt lange nach) Mehr miteinander wagen und mehr den menschlichen Maßstab im Blick haben. Wenn man das als oberste Maxime hat, könnte man auch die ganzen Klimafragen lösen. Ich sehe das nicht getrennt.
Das Gespräch führten Hanno Henkel und Arnulf Müller