Vom Hindukusch zur Startbahn
Ein SeitenWechsel
Afghanistan, Land der Extreme: Hitze und Trockenheit im Sommer, eisige Kälte und heftiger Schneefall im Winter. Zwischen ausgedehnten Wüstenlandschaften und Hochgebirgen liegen fruchtbare Oasen mit hohen landwirtschaftlichen Erträgen.
Ein Volk, das sich als afghanisch versteht, gibt es nicht. Die Bevölkerung ist ethnisch zersplittert, setzt sich aus Paschtunen, Tadschiken, Usbeken sowie vielen Minderheiten zusammen. Ein Großteil der Bevölkerung ist auch im Jahr 2014 noch nicht alphabetisiert, nicht zuletzt, weil den Frauen in der Zeit des Taliban-Regimes das Recht auf Schulbildung verwehrt wurde. Afghanistan bleibt ein Land in der Dauerkrise. Seit 35 Jahren ist die Lage explosiv, Gewalt und Instabilität kennzeichnen den Alltag. Vor diesem Hintergrund erwies sich der ISAF-Einsatz der Bundeswehr für den ehemaligen Soldaten Jens Mader (Name geändert) als eine gefährliche und komplizierte Mission.
Zweimal war der aus Poppenhausen stammende Familienvater für die Bundeswehr jeweils ein halbes Jahr lang in Afghanistan im Einsatz: im Jahr 2003 in polizeilicher Funktion zur Sicherung der Hauptstadt Kabul sowie im Jahr 2009 als Gruppenführer einer Scharfschützeneinheit. Auslandseinsätze sind selbst für routinierte Soldaten, die sich monatelang für diesen Fall vorbereitet haben, mit seelischen Ausnahmezuständen verbunden. Das gilt auch für ihre Familien. Besonders emotional wurde es für den damals 22-Jährigen kurz vor dem Abflug zu seinem ersten Einsatz, als ihm sein Schwiegervater weinend den Rosenkranz seines Großvaters mit auf den Weg gab.
In Kabul angekommen, gingen Mader und seine Kameraden auf Patrouille, zeigten militärische Präsenz in der Stadt und arbeiteten mit Organisationen zum Wiederaufbau des Landes zusammen. Dabei kam Mader auch direkt in Kontakt mit der hilfsbedürftigen Bevölkerung. Seine Betroffenheit verwandelte sich sogleich in ein konkretes Engagement: Er ließ zu Hause auf dem Dachboden nach Spielsachen und anderen brauchbaren Gegenständen suchen und fragte diesbezüglich auch bei in der Rhön ansässigen Firmen und Schulen nach. Nachdem allerhand Nützliches zusammengekommen war, ließ er sich die gespendeten Utensilien ins Feldlager nach Kabul schicken und verteilte sie als persönliche Hilfspakete an afghanische Kinder.
Gefahrensituationen gehörten in Kabul zum Alltag: Das Feldlager der Bundeswehr wurde regelmäßig mit Raketen beschossen; in der Umgebung war häufig Gewehrfeuer zu hören. „Beim ersten Raketenbeschuss war ich noch aufgeregt, mit der Zeit stumpft man aber ab“, sagt Mader. Dies änderte sich jedoch bei seinem zweiten Einsatz – als Teil der so genannten Quick Reaction Force. Im Jahr 2009 war die Gewalt in Afghanistan durch das Wiedererstarken der Taliban eskaliert. Mader wurde mehrfach in bewaffnete Konflikte involviert, die er nicht näher erläutern möchte, aber doch als „einschneidende Erlebnisse“ bezeichnet. Unter diesen Umständen stellte sich für ihn und viele seiner Kameraden die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines weiteren Engagements der NATO im anscheinend nicht zu befriedenden Afghanistan.
Es schien, als könne man den Kampf gegen die Taliban nicht mit den verfügbaren Mitteln gewinnen. „Die eigene Motivation begann zu bröckeln“, erklärt er. In seinem ersten Afghanistan-Einsatz war er noch mit der Motivation gestartet, einen Beitrag zur Demokratisierung und zum Fortschritt des Landes leisten zu können. 2009 ging es primär darum, sich und seine Einheit wohlbehalten aus dem Einsatz nach Hause zurückzubringen. „Im Feld fungiert man als Gruppe, jeder ist auch für seine Kameraden verantwortlich. Da gab es kein Denken in Dienstgraden“, so der 33-Jährige. Heimweh, Angst und Zweifel waren in dieser Zeit für Jens Mader ganz „alltägliche Gefühle“. In der Wüste Afghanistans lernte er die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen: Kameradschaftlichkeit und die Verlässlichkeit seiner Einheit, vor allem aber die Zuwendung seiner Familie und anderer Menschen, mit denen er über die Erfahrungen im Feld sprechen kann.
Der Krieg hat Jens Mader verändert: Er ist nachdenklicher und sensibler geworden. „Natürlich reagiert man anders auf Sirenengeheul, wenn man in Afghanistan war“, gibt er zu. Die Zeit dort habe ihn auch enger an seine Familie, speziell an Frau und Tochter geschweißt. Möglicherweise wäre der in der Rhön wohnende Mann als Berufssoldat bei der Bundeswehr geblieben, aber seine Erfahrungen in Afghanistan führten ihn zu einer bewussten Entscheidung dagegen. Heute arbeitet Mader – nach Ablegung der Meisterprüfung im Schreinerhandwerk und diversen Weiterbildungen – als Lehrer für die Fachpraxis in der Startbahn des Antoniusheims. Hier hilft er Jugendlichen mit körperlicher oder geistiger Einschränkung, einen passenden Beruf zu finden, und bereitet sie an der Werkbank für spätere handwerkliche Tätigkeiten vor. Durch seine Arbeit möchte er Verantwortung für junge Menschen übernehmen und sie zu mehr Selbstständigkeit führen. Verantwortung für anderen zu übernehmen – vor allem das hat er vom Hindukusch mit nach Hause genommen. Auch fünf Jahre später verbindet Mader gemischte Gefühle mit Afghanistan: Dort beeindruckten ihn Landschaft und Menschen; dort konnte er Kindern helfen und musste später kämpfen. Trotz vieler schlimmer Erlebnisse hat Mader sein positives Menschenbild nicht verloren, im Gegenteil: Wenn er sich daran erinnert, wie selbst arme Familien fremden Menschen gegenüber eine unglaubliche Gastfreundschaft an den Tag legten und wie zufrieden die Afghanen mit dem Wenigen sind, das sie haben, dann wirft das für ihn ein faszinierendes Licht auf das Menschsein, abseits von Krieg und Taliban.
Um mit seinem Einsatz in Afghanistan innerlich abschließen zu können, möchte Mader noch einmal privat dorthin zurückkehren. „Ein Teil von mir ist in Afghanistan geblieben!“, sagt er.
von Benedikt Rippert