Tik...? ...Tok!
von Anna-Pia Kerber
Am Bahnsteig. Zwei Kids, zwei Sträuße roter Rosen, die Freundin hält die Handykamera.
Film ab! Zwei Kids laufen aufeinander zu, fallen sich in die Arme. Schnitt! Slow Motion Filter draufgepackt, passenden Song draufgelegt. Video ab! Mobile Daten? Check! Schon steht das erste TikTok-Video des Tages im Netz.
Hat keine zehn Minuten gedauert.
Unterwegs mit jungen TikTok-Stars. Das heißt: schnell sein! Und vor allem: mobil sein. Im Sinne von: mobile Daten haben. Check!
Maxi, 17 Jahre, Fulda, ist seit Sommer 2019 bei TikTok und bekam seither fünf Millionen Likes für seine Videos.
Amely, 15 Jahre, Gießen, ist seit 2016 bei TikTok und bekam eine Million Likes für ihre Videos.
Die beiden haben sich über die Video-Plattform TikTok – ehemals Musical.ly – kennengelernt.
Das erste Treffen von Maxi und Amely fand am Frankfurter Weihnachtsmarkt statt. Und wurde natürlich auf Video dokumentiert: „Erstes Treffen mit der IBF – Bahnhof“. Like! Ein hübsches Paar, das Aufmerksamkeit erregt. Aber: IBF bedeutet lediglich Internet Best Friend. Also der beste Freund, den man im Internet kennengelernt hat.
Frage @maxi: Warum machst du Videos?
„Ich will die Leute fröhlich machen und gute Stimmung verbreiten!“
Und das tut er. Indem er sich filmt, wie er die Lateinarbeit zurückbekommt oder wie er sich fragt, ob man im Skiurlaub im Sessellift sitzen bleiben kann, bis man wieder unten ist. Oder ob man mit der Zunge am vereisten Pfosten kleben bleiben würde. Handschuhe aus, Video drehen, Handschuhe an. Das Handy ist immer dabei. Auch auf zweitausend Höhenmetern in Frankreichs Skigebiet.
Mobile Daten? Check!
Allerdings spielen die meisten TikTok-Videos zuhause. Surft man durch die Plattform, sieht man die Mehrheit der kleinen Videofilmer in ihren Kinderzimmern, wie sie die Lippen zur Musik bewegen zu Songs, die bei TikToks Zielgruppe, also den unter den Acht-bis-Achtzehnjährigen, angesagt sind.
Was dann passiert, ist nicht etwa Karaoke. Nein, es bleibt bei reiner Lippensynchronisation. Und die kommt gut an. Tausende Likes für die witzigste Lippenbewegung.
Aber wie kommt das? Wie kommt es, dass TikTok längst die gängigen Plattformen überholt hat – und die am schnellsten wachsende App ist, mit weltweit achthundert Millionen aktiven Nutzern? Vielleicht liegt es daran, dass nicht alles so glattgebügelt ist wie auf Instagram. Man will keine perfekten Gesichter mehr sehen, keine gestrafften Bikinifiguren und dauerlächelnde Menschen im vermeintlich immerwährenden Urlaub. Auf TikTok muss man nicht perfekt sein. Im Gegenteil: Man darf Fehler haben. Wer sich und seine Schwächen witzig präsentiert, erntet mitunter die meisten Likes.
Und Kreativität ist gefragt. Wer die vorgegebenen fünfzehn Sekunden mit kreativem Inhalt füllt, wird geliked.
Fünfzehn Sekunden: So lange ist die Aufmerksamkeitsspanne des TikTok-Nutzers. Danach wird weitergewischt.
Maxi und Amely haben inzwischen die Location gewechselt. Ihre Entdeckung: eine Wand mit Grafitti. Knallbunte, ausgebreitete Engelsschwingen. Vor dieser Wand gibt es einen weiteren Sprint und eine weitere Umarmung. Slowmotionfilter, Musik, Cut. Mobile Daten? Check!
Frage @maxi: Warum nicht YouTube benutzen? Dort kann man viel längere Videos produzieren und hochladen.
„TikTok ist spontaner und witziger!“
Videos werden hier nicht von langer Hand geplant. Der Inhalt nicht aufwendig geschnitten oder überarbeitet. Alles geht ganz schnell. Über Nacht kann man tausende Likes ernten – anders als auf Facebook. Noch während wir drehen, knackt Maxi ganz nebenbei die Einhunderttausend-Follower-Marke. Congratulations! Die Freundinnen geben sich zurückhaltend mit ihren Glückwünschen, fast schüchtern. Einhunderttausend! Diese unglaubliche Zahl scheint bloß ein entfernter Begriff zu sein. Eine nicht greifbare Zahl, die man schwer in die Realität übertragen kann.
Frage @maxi: Hast du nie Bedenken, weil sich hunderttausend Menschen dein Privatleben ansehen?
„Nein, eigentlich nicht. Was soll schon passieren.“
Einblicke in sein Privatleben gibt es kostenlos, die Fans lieben ihn dafür. Die Lampe, die in seinem Zimmer hängt, haben hunderte Menschen kommentiert, weil sie dieselbe haben. Gemeine Kommentare? Selten.
Frage @maxi: Würdest du Videos im Nachhinein löschen?
„Nein. Das ist ja meine Geschichte.“
Auch wenn hunderttausend Menschen daran teilhaben. „Wenn ich mal älter bin und anders aussehe, schalte ich vielleicht die Videos auf privat. So kann ich wenigstens die Kommentare behalten“, sagt er über die Zukunft. Aber jetzt geht es um den Augenblick. Und im Augenblick wirft Maxi kunstvoll den Rosenstrauß in die Luft – damit Amely ihn auffängt. Video ab!
Die hübsche Fünfzehnjährige postet auf ihrem Profil Videos, die zum offenen Umgang mit sexueller Orientierung aufrufen. Ihre Lippensynchronisation ist mit dem Song bi-panic unterlegt, in Anspielung auf den Findungsprozess. Ihr Mund teilt die Überlegungen mit der Sängerin:
„I like boys and girls, but mostly girls, but I don’t really know, cuz it’s like: I like boys, but I also don’t, but I like … really like girls, but also do like boys …” Zerissenheit durch die Zuneigung zu sowohl Jungs als auch Mädchen, in klaren Worten auf den Punkt gebracht.
In einem anderen Video sieht man die Regenbogenflagge in ihrem Zimmer hängen. Die Fünfzehnjährige sendet nicht nur Unterhaltung, sie sendet eine klare Message: kein Platz für Homophobie und Engstirnigkeit.
Überhaupt gibt es eine sehr große Toleranz unter den Kids – nicht nur im digitalen, sondern auch im echten Leben. Dass die Grenzen zwischen dem, was für typisch männlich und typisch weiblich gehalten wird, verschwimmen, scheint hier niemandem aufzufallen. Im Gegenteil. Es wird damit kokettiert. Eine Freundin, die die Videos dreht, fragt Amely nach ihrem neuen Parfum. „Wie findest du es?“ – „Sehr männlich.“ – „Danke.“
Frage @alle: Erkennt ihr auf einen Blick am TikTok-Profil von jemandem, ob er schwul ist?
„Ja!“ (einstimmig)
Frage @alle: Ist das womöglich einfacher als früher, als man rätseln musste, welcher Seite der Schwarm angehört?
„Warum? Man kann doch einfach fragen.“
Maxi geht davon aus, dass er viel mehr weibliche Fans hat als männliche. Inzwischen gibt es sogar Fanpages über ihn. Was dort passiert? Die Fans bearbeiten seine Videos, schneiden Sequenzen zusammen, teilen und liken neu. Und das tausendfach.
Wo früher Fan-Art gezeichnet wurde, das Gesicht des Schwarms mit Bleistift gemalt und an die Wand gepinnt wurde, gibt es heute Videomitschnitte. Keine Poster mehr an Kinderzimmerwänden, sondern Datenvolumen auf dem neuesten Smartphone.
Mobile Daten? Check!
Gemeinsam Ideen entwickeln, Musik auswählen, rausgehen – auch darum geht es bei TikTok. Für die nächste Videoidee wird ein Einkaufswagen gebraucht. Maxi dirigiert die Gruppe zum Einkaufszentrum. Idee kurz besprechen, Musik auswählen.
Allerdings gibt es ein Problem. Keiner der drei hat eine Münze für den Einkaufswagen dabei. Kurze Ratlosigkeit.
Frage @maxi: Warum tauscht ihr nicht einfach einen Geldschein in einem der Geschäfte?
„Ich zahle alles mit Karte.“
Hashtag real life: #fail!
Aber für diese Kids sieht das echte Leben eben anders aus. Und die Zukunft. Für sie wird es selbstfahrende Autos geben, automatische Kassensysteme im Supermarkt, Google-Maps-App statt Straßenkarten und Gesichtserkennung am Telefon. Und eben kein Hartgeld. Für diese Kids sieht das echte Leben vielleicht gar nicht mehr nach echtem Leben aus. Zumindest ist es das, was die ältere Generation befürchtet.
Krass: Eine Milliarde aktive Nutzer greifen monatlih auf die App zu.
Von diesen Befürchtungen haben die Kids noch nichts gehört. Sie drängen sich um den Einkaufswagen. Sie sind zu höflich, um mich nach Münzen zu fragen, bis ich sie ihnen anbiete. Endlich kann gedreht werden. Maxi gibt den Ton an: Amely soll im Einkaufswagen sitzen und Kunststücke machen, dazu gibt er als Wagenfahrer eine akrobatische Nummer. Passanten werden aufmerksam, Amely hat kurz Bedenken.
„Die sehen uns ja alle zu …“
Keine 24 Stunden werden vergehen, bis das Video von einhunderttausend Followern gesehen wird. Theoretisch. Praktisch werden nicht alle Follower erreicht, weil der Clip im Überangebot von täglichen neuen Videos untergeht. Auf TikTok gibt es ständig neue Trends. Wer Erfolg haben will, muss am Ball bleiben und die neuesten Hashtags benutzen – die sich von Woche zu Woche ändern. „Es wird so viel Interessantes geboten, was man sehen muss“, sagt Amely.
Frage @amely: Wie viele Stunden am Tag verbringst du auf TikTok?
„Sieben Stunden. Aber gestern waren es nur vier.“
Kreativ sein und ein bisschen crazy – auch das bedeutet Tiktok
Womöglich kam das echte Leben dazwischen. Kann passieren. Doch eine Karriere im Bereich Social Media ziehen weder Amely noch Maxi in Betracht. Im Gegenteil. Fragt man sie nach ihrer beruflichen Zukunft, fallen die Antworten bodenständig aus: Lehrer und Erzieherin.
Für sie ist TikTok ein Hobby – kein Mittel, um Geld zu machen. Geld machen kann man mit TikTok sowieso nicht – noch nicht. Während andere Plattformen wie Facebook, Instagram und YouTube gezielt auf Werbung setzen und die Klickzahlen und Werbeverträge das Gehalt der jungen Social-Media-Stars bestimmen, hat TikTok noch keine entsprechenden Tools eingebaut. Testphasen mit Produktplatzierung hat es aber schon gegeben. Stattdessen hat TikTok ein neues System eingeführt: Fans können sogenannte Gift Coins erstehen. Diese gekauften Punkte kann man an seinen Lieblings-Creator senden. Auch Maxi hat schon solche Geschenke erhalten. Was ihm vom TikTok-Rechnungssystem übrig bleibt, sind umgerechnet etwa 30 Cent.
Außerdem wird man belohnt, wenn man eine gewisse Anzahl von Followern erreicht hat. Dass man mit TikTok auch verdienen kann, ist nur eine Frage der Zeit.
Und wie hat man den größtmöglichen Erfolg? Muss man witzig sein, interessant, populär? Muss man schön sein? „Ja, schon“, ist sich die Gruppe einig. Andererseits: „Man kann auch durch Hate berühmt werden.“
Die Themenpalette auf TikTok ist vielfältig. Haustiertricks. Pranks, also witzige Episoden, in denen man jemandem einen Streich spielt. Aber auch ernsthafte Inhalte finden sich. Drogenmissbrauch, Depressionen, Selbstverletzung. Eines von Amelys Videos ist mit einer lakonischen Frauenstimme unterlegt. Sie sagt: „Macht einen Finger runter, wenn ihr niemanden zum Reden habt. Macht einen Finger runter, wenn ihr euch schon einmal selbst verletzt habt. Macht einen Finger runter, wenn ihr schon einmal daran gedacht habt, euch selbst zu verletzen …“ Amely bewegt dazu die Finger. Am Ende bleiben nicht viele Finger oben.
Nach dem Interview ist es auf dem Rückweg erstaunlich still im Auto. Ein Blick in den Rückspiegel zeigt, warum: Alle drei haben die Köpfe in ihre Handys gesenkt. Unbeachtet fliegt die Landschaft vorüber. Auf TikTok gibt es immer etwas zu sehen.
Gefeiert wird die Einhunderttausender-Marke dann doch noch. Natürlich im Netz, mit tausenden virtuellen Glückwünschen.