Muss ich meinen Namen tanzen?
Als ich versuchte, mit professioneller Hilfe das Burnout in den Griff zu bekommen, habe ich den Mut gefunden, aus alten Strukturen auszubrechen und neue Wege zu gehen.
„Ich lade Sie ein, ...“, sage ich als Gästeführer manchmal zu Teilnehmern meiner Rundgänge, wenn ich sie durch Fulda führe und ihnen die Schönheiten der Stadt zeige. Lange war mir gar nicht bewusst, dass ich diese höfliche Formel verwende. Irgendwann erinnerte ich mich daran, wann ich diese Wendung zuletzt im Ohr hatte: Es war in der Psychosomatischen Klinik in Bad Kissingen. Fast drei Monate habe ich dort verbracht, um mein Burnout in den Griff zu bekommen. „Ich lade Sie ein, ...“ lautete damals die sanfte Aufforderung der Therapeuten, in mich hineinzuspüren, mich zu erden, auf die innere Stimme zu hören und seelische Schieflagen auszuloten.
Vor dem Klinikaufenthalt hätte ich über solche Einladungen bestenfalls den Kopf geschüttelt oder eine meiner bösen Bemerkungen gemacht. Ironie war für mich oft ein probates Mittel, von eigenen Konflikten abzulenken. Aber nach und nach ging auch die verloren. Ab Herbst 2010 fiel mit den Blättern meine Stimmung. Mit dem Rückzug der Sonne schwanden meine Kräfte. Gleichgültigkeit und lähmende Müdigkeit machten sich breit. Alles wurde mir zu viel. An meinem 40. Geburtstag glaubte ich, auf der falschen Feier zu sein, fragte mich: Was hat das mit mir zu tun?„Du arbeitest zu viel!“, hörte ich mahnend von meinen Eltern, Freunden, Kollegen. Aber das konnte nicht die Ursache dafür sein, dass ich mich fühlte wie ein leerer Akku. Die Arbeit hatte mir doch meist Freude bereitet – ob für die ortsansässige Tageszeitung oder den regionalen Energieversorger. Ich machte meine Sache gut, kam bestens mit Kollegen klar. Seit Jahren funktionierte ich wie ein Uhrwerk – immer pünktlich, stets zuverlässig. Pausen brauchte ich nicht. Das war schon in Ausbildung und Studium so. Wenn privat das Telefon klingelte, Oma anrief, etwas zu besorgen oder zu erledigen war, eine Freundin Kummer loswerden wollte oder ein anderer Beitrag zur Rettung der Welt anstand: Ich war dabei!
Plötzlich wurde ich krank. Ein grippaler Infekt, dann der nächste; Schlaflosigkeit, Schwindel und eine Ohnmacht, nach der ich morgens auf dem Küchenboden erwachte. Die Ärzte stellten mich auf den Kopf. Die gute Nachricht: Organisch alles okay! Die schlechte: Es muss etwas Psychisches sein. „Da gibt’s doch was von Ratiopharm“, sagte ich mit dem letzten Rest an Zynismus. Aber leider: Fehlanzeige!
Was werden die anderen sagen?
Ich griff zum Telefon, suchte Hilfe. Dass eine Psychologin so schnell einen Termin frei hatte, war mein Glück. Schon nach wenigen Sitzungen war klar, dass nur eine stationäre Behandlung Aussicht auf Besserung versprechen würde: „Sie müssen sich Ihren Erschöpfungszustand vorstellen wie ein Konto. Sie haben es jahrelang überzogen, sind tief in den roten Zahlen. Auch wenn Sie das jetzt erkennen, werden Sie lange brauchen, bis Sie die Schulden abbezahlt haben und wieder ins Plus klettern.“ Der Vergleich war deutlich. Das Vertrauen in die empathische und kompetente Expertin ließ mich trotz empfundener Scham den schweren Weg gehen, einen Antrag auf Reha-Behandlung zu stellen. Doch was werden die anderen sagen?
Ende Februar 2011 erhielt ich den Bescheid, dass meine Reha eine Woche später beginnen würde. Ich informierte meine Kollegen, die viel Verständnis zeigten, aber überrascht waren, denn bis zum Schluss hätte ich meinen Job perfekt erledigt. Anfang März hob ich meinen Rollkoffer aus dem Auto, zog ihn durch den noch winterlichen Kurpark, wurde in der Klinik freundlich empfangen und holte auf meinem Zimmer das erste Mal tief Luft: „Was wird mich hier erwarten? Muss ich meinen Namen tanzen?“
Anfangs hatte ich Hemmungen, mich Therapeuten und Mitpatienten gegenüber zu öffnen, hielt mich in Einzelsitzungen und Gruppentherapie zurück. Irgendwann aber erkannte ich, dass ich diesen Weg, der kein Spaziergang werden würde, selbst gehen musste. Auch durfte ich erfahren, dass rechts und links Hände warten, die sich mir entgegenstrecken, wenn es anstrengend, traurig und schmerzhaft wird. Aus den geplanten vier wurden elf Wochen Klinik, in denen ich mich oft auf das „Ich lade Sie ein,...“ der Therapeuten einließ. Aber nicht immer!
Ein „Nein“ ist immer möglich!
Als der verantwortliche Psychologe mich in den Kurs „Kreative Lebensgestaltung“ einbuchte, erwartete ich so etwas wie Malen, Basteln oder Töpfern. Pustekuchen! Stattdessen hieß es: „Wir tanzen jetzt, und wer nicht tanzen kann, bewegt sich einfach zur Musik!“ Das ging ja noch – doch ich hatte das ungute Gefühl, dass am Ende der Einheit dann doch der eigene Name zu tanzen sei. Hilfe! Als die Therapeutin dazu einlud, Tiergeräusche zu imitieren, wurde es mir zu bunt. Diese Kakofonie hielt ich nicht aus, blickte vom Fenster aus auf den Park, der langsam zu grünen begann, und summte „Ein Männlein steht im Wald“ vor mich hin. Auf die Frage, ob ich nicht wieder mitmachen wolle, antwortete ich deutlich und gereizt: „Nein!“ Therapieziel der Stunde erreicht.
Ich buchte mich in die Maltherapie ein, knallte die Leinwand mit Farbe voll, befreite mich mit Hilfe von Pinsel und Spachtel von meinen angestauten Aggressionen. Ich begann zu erkennen, was in meinem Leben schiefgelaufen oder auf der Strecke geblieben war, welche Wünsche in mir ruhten und darauf warteten, erfüllt zu werden. Viel zu lange hatte meine Arbeitswut sie unterdrückt. Nun artikulierten sie sich. Ich hielt sie auf kleinen Zetteln fest, die ich überall in meinem Zimmer verteilte, um sie nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Noch von der Klinik aus kündigte ich meine Stelle, ohne eine neue in Aussicht zu haben. Denn ich wusste, dass es Zeit und Ruhe brauchen würde, eine neue berufliche Perspektive zu entwickeln, um kreativ und zufrieden zu sein. Heute – nach über zwei Jahren – kann ich sagen: Ich habe sie gefunden. Die Nachsorge bei der Psychologin meines Vertrauens, die Zuneigung geschätzter Menschen und das Schreiben eines Buches über Fulda haben mir dabei geholfen. Schritt für Schritt fand ich zurück ins Leben, das ich nie so einladend fand wie heute.
Klaus H. Orth