Mensch, Alter!
von Arnulf Müller
Da steht er wieder vor einem, nach all den Jahren. Was haben wir uns durch die Oberstufe gemogelt! Strahlen einander an, Vertrautheit, Wohlwollen. Doch eine Etage tiefer durchkreuzt ein despektierlicher Gedanke den schönen Moment: „Mein Gott, ist der alt geworden!“ Es ist der am häufigsten gedachte und verschwiegene Gedanke auf Klassentreffen. Der oder die ist aber alt geworden! Nicht etwa wir. In Sachen Alter kennen wir keine Solidarität. Schließlich stehen wir selbst in voller Blüte: Was könnten wir noch für Bäume ausreißen! Doch am nächsten Morgen erzählt uns der Badezimmerspiegel, dass der Schulkamerad wohl dasselbe dachte.
Es ist die Zeit, in der es kippt. Die 50 ist Geschichte, die 60 winkt freudig von Ferne, und man beginnt, der Wahrheit mehr oder weniger gefasst ins Auge zu blicken. Der berufliche Zenit liegt hinter einem, das Tempo zu halten fällt schwerer. Vom ständigen Zwang zu Reformen und Umstrukturierungen ist man längst nicht mehr überzeugt, obwohl man es lange Jahre selbst gepredigt hat. Doch noch ist die Hand am Ruder, die soziale Rolle nicht ausgespielt. An ihr halten wir fest. Und überspielen die Vorboten des Verfalls mit Sportwahn, jugendlicher Kleidung, Haarfärbung,Cabrio (endlich ist das Geld da!), heimlichen Liebschaften (bevorzugt mit Jüngeren), ja selbst mit plastischer Chirurgie. Alt ist man, wenn man anfängt, anderen beweisen zu wollen, wie jung man noch ist.
Für die Jugend, aber auch für den Macher um die 40, bleibt das Alter abstrakt. Sie können sich nicht wirklich einfühlen. Erst wenn die Spitze des Speers in die eigene Richtung zeigt und der Körper peinigende Signale sendet, vertieft sich die Perspektive: Ich bin gemeint. Und man beginnt sich leise zu fragen, wer man sein wird, wenn man nicht mehr der gefürchtete Abteilungsleiter, die geschätzte Oberstudienrätin oder der ausgebuffte LKW-Schlosser ist. Wovon sich nähren, wenn das Elixier der sozialen Anerkennung fehlt? Wird es gelingen, sich neu zu erfinden? Wie wird es sich anfühlen, im zermürbten Leib zu existieren? Wie werden sich die Tage füllen? Wie wird man das Wegsterben von Freunden verkraften?
NICHT SELTEN KOMMT ES ZU UMKEHRUNGEN
Niemand weiß, ob es gelingen wird, in Würde zu altern. Ob man ein guter Alter sein wird. Was das heißt, ist ohnehin die Frage. So unterschiedlich Menschen vorher waren, so unterschiedlich sind sie im Alter. Keineswegs aber ist gesagt, dass der stets lockerheitere Alltagsmensch, der im Beruf und im Freundeskreis so unkompliziert erschien, dieselben Wesenszüge im Alter zeigen wird. Ebenso wenig, dass der harte, strenge Machtmensch, dem Ordnung und Disziplin wichtiger als Freundschaft schienen, einfach so weiterschreitet. Im schmerzhaften Prozess des Alterns verändern sich Menschen, ihre Persönlichkeit entblättert sich noch einmal und nicht selten kommt es zu Umkehrungen.
Im Idealfall gelangt der alternde Mensch in eine größere Nähe zu sich selbst. Wichtiges scheidet er von Unwichtigem, echte Freunde von vermeintlichen. Obwohl ihm immer weniger Zeit bleibt, nimmt er sich mehr Zeit, gibt dem, was ihm begegnet, mehr Raum. Eine größere Ruhe umgibt ihn, den täglichen Wirren begegnet er gelassener, sein Urteil ist reif, umsichtig, gerecht. Sein Humor hat sich manch hartem Schlag zum Trotz nicht verflüchtigt, im Gegenteil. Jeder kennt solch gelungenes altes Leben und Begegnungen mit ihm sind ausgesprochen bereichernd.
Jeder kennt aber auch das Gegenteil. Da ist der mürrische Alte, der chronisch Hadernde, der den nachfolgenden Generationen Kraft und Jugend missgönnt. Der überall Verfall und Dekadenz wittert und Gott und der Welt Vorhaltungen macht, weil seine Lage so ist, wie sie ist. Oder der antriebslose Alte, der in Interessenlosigkeit versinkt, dem nach seinem Berufsausstieg keine Sonne mehr aufging und der vor dem TV seinem Ende entgegendämmert. Nichts kann ihn berühren, er sondert sich ab, nur Johnny Walker bleibt sein treuer Freund. Im Alter zeigt sich, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Die Substanz, aus der man lebt, tritt ungeschminkt zutage.
Aber, so werden manche einwenden, hängt es nicht zuerst von den Umständen ab? Entscheidend ist doch, ob alten Menschen Wertschätzung entgegengebracht wird, ob man sie einbezieht! Leiden sie unter Altersarmut? Scheitern sie an Barrieren? Werden sie in Heime abgeschoben? Viele scheinen nur verbittert, weil die Gesellschaft sie im Stich lässt. All dies sei nicht geleugnet. Der Umgang mit alten Menschen ist vielfach skandalös und eines so reichen Landes unwürdig. Und doch soll einmal die These gewagt werden, dass der entscheidende Punkt damit nicht getroffen ist. Gute Rahmenbedingungen sind wichtig, aber garantieren nichts. Sonst wären die reichsten Alten die glücklichsten. Sind sie das?
Zu altern ist etwas sehr Persönliches, eine seelische Aufgabe, eine der schwereren im Menschenleben. Dass man alt wird, erfährt jeder in aller Stille, stoßweise. Verbunden mit dem Wissen, dass das Ende näher rückt. Damit muss jeder alleine klarkommen. Auch wenn es wichtig ist, dass alte Menschen eingebunden sind und aktiv mitmischen: Mit dem Altwerden ist unwillkürlich eine Bewegung nach innen verbunden, ein langsamer Rückzug, eine Art Existenzvertiefung. Wer dem ausweicht, indem er verbissen am Bisherigen festhält, verpasst die Chance, nicht nur äußerlich den Zuschnitt seines Lebens anzupassen, sondern auch innerlich Weichen zu stellen.
TURNE BIS ZUR URNE
Im ersten Jahrzehnt des Ruhestandes mag das noch nicht dringlich scheinen. Mit Blick auf diese Phase wird das Alter gerne idealisiert, besonders seitens der (Reise-)Industrie, die Parolen wie „Das Alter genießen!“ streut. Der es darum geht, den Alten die Kohle aus den hageren Rippen zu leiern. Oder seitens der Krankenkassen, die den rüstigen Senior etablieren, der einen regelmäßig mit Kunstbeißerchen vom Titelblatt ihrer Magazine angrinst. „Fit im hohen Alter“ steht daneben. Für die Kassen gilt: Turne bis zur Urne! Und auch volkswirtschaftlich gesehen wäre es am profitabelsten, wenn die Uralten zuletzt ins Krematorium joggen würden.
Bereits antike Autoren wie Seneca oder Cicero verklärten das letzte Lebensdrittel. Allerdings dachten sie vor allem an privilegierte 60-Jährige, das heißt im Grunde an sich selbst: gesund, geachtet, gut situiert. Das hohe Alter mit seinen chronischen Beschwerden war selten, Altersdemenz fast unbekannt. Man ist kein Fatalist, wenn man das Alter heute nicht nur als goldenen Herbst und Erntezeit begreift, sondern auch als Kette von Verlusten. Auf den Herbst folgte noch jedes Mal ein Winter. Je realistischer man sich das eingesteht, desto klarer sieht man, worauf es ankommt.
Wenn das Leben Boxschläge verteilt, braucht es Nehmerqualitäten. Man muss den Verlusten etwas entgegenzusetzen haben. Wohl dem, der auf Ressourcen zurückgreifen kann. Vielleicht gibt es doch eine Art Gesetz: Wer sich auch in Phasen hoher Produktivität und Leistungsstärke nicht völlig aussaugen ließ, wer breiter aufgestellt war und sich die Freiheit nahm, neben seinem Beruf auch anderen Interessen nachzugehen, wer Freundschaften pflegte, sich weiterbildete, vielleicht mal ein Buch las und sich in seinen Hobbys verlieren konnte, dessen Chancen sind größer, im Alter zurechtzukommen. Der verliert sich in der Krise nicht, weil er sich sein ganzes Leben nicht verlor. Er wird sich erneut Ziele stecken und Lebenshunger entwickeln können. Für den aber, der stets nur den nächsten Karriereschritt plante und durch und durch zweck- und nutzenorientiert dachte, ist das Spiel plötzlich zu Ende. „Man darf das Schiff nicht an einen einzigen Anker und das Leben nicht an eine einzige Hoffnung binden“, mahnte schon der Grieche Epiktet.
AUF EIN LEBEN IN RUHE SIND DIE MEISTEN NICHT VORBEREITET
Zugegeben, das sagt sich leicht, denn der Pressdruck ist hoch. Auch derjenige, der einfach nur ins Räderwerk eingespannt ist und ums Auskommen kämpfen muss, wird wenig Gelegenheit haben, sein Dasein zu weiten und zu vertiefen. Unser Wirtschaftssystem ist aufs Ganze gesehen enorm erfolgreich, aber seine hohe Dynamik birgt die Gefahr, dass es Menschen über Jahrzehnte seelisch deformiert. Die große Zahl psychisch belasteter Menschen spricht für sich. Da wirkt es wie Hohn, dem „verdienten Mitarbeiter“ ein „gutes Leben im Alter“ zu wünschen und ihn ausgebrannt mit Mitte Fünfzig in den „wohlverdienten Ruhestand“ zu schicken. Das macht keinen Sinn, denn auf ein Leben in Ruhe sind die meisten überhaupt nicht vorbereitet.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht: Wie gehen wir mit den Alten um? Die Frage muss lauten: Wie gehen wir mit denen um, die das Altwerden noch zu leisten haben? Eine Kultur, die das Alter würdigt, beweist sich darin, dass sie den Menschen in allen Phasen seines Lebens würdigt, auch und gerade in seinen wirtschaftlich produktivsten. Denn nur wenn die Menschen in dieser Zeit nicht um ihre seelischen und geistigen Reserven gebracht werden, können sie am Ende auch würdig altern. Irgendwoher muss es ja kommen.
Doch was heißt: Den Menschen würdigen? Im Geiste Immanuel Kants formuliert: Wenn im gesellschaftlichen Kräftespiel nie nur der äußere, sondern immer auch der innere Mensch zur Geltung kommen darf. Wir alle sind eingespannt in ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeit: Der eine backt Brötchen für die anderen, der andere entwickelt eine Software, der Dritte operiert am offenen Herzen. Menschen benutzen die Talente anderer für eigene Zwecke, und nur selten interessiert der Mensch dahinter. Dies ist so weit normal, kann aber zu ernsten Problem führen: Wenn jemand immer nur Befehlsempfänger ist, Erfüllungsgehilfe für fremde Interessen, ohne sein eigenes Sinn- und Glücksstreben mit einbringen zu dürfen; oder wenn jemand so überbeansprucht ist, dass ihm kein Raum zur persönlichen Entwicklung bleibt. Aber auch durch sich selbst ist der Mensch bedroht: Wenn er sich in seiner sozialen Rolle verliert, über Gebühr nach Bestätigung lechzt oder sich stark von Karriere- und Machtgesichtspunkten bestimmen lässt.
Unser System belohnt solche Verengungen. Es fördert einen Menschentyp, der in ausgeprägter Distanz zu sich selber lebt. Mangelnde Empathie ist der Schlüssel seines Erfolges. Seine geringe seelische Dynamik lässt ihn besonders entschlossen erscheinen. Sein Weg verläuft eher gerade, vom Umfeld wird er für sein Durchsetzungsvermögen gefeiert. Innere Impulse und leise Zweifel kann er leicht unterdrücken ‒ bis er unempfindlich gegen sie geworden ist. Weniger kompatibel sind hingegen Menschen mit gesteigerter Sensibilität und geistiger Offenheit, denn dies führt zu einem zögerlich abwägenden Handlungsstil. Wer dazu neigt, sich viele Fragen
zu stellen, sich intensiv in fremde Perspektiven und Personen hineinzudenken, und in der Lage ist, auch gegen sich selbst zu denken, der erscheint nach außen hin schwach und unentschlossen.
Wenn es dann aber ans Altern geht, dreht sich das Spiel um. Jetzt sind seelische Weite, Bedachtsamkeit, Gelassenheit und Empathie gefragt. Jetzt heißt es, auf die leisen Impulse zu hören, denn es wird immer klarer, worum es im Leben geht: Um die Entwicklung des inneren Menschen, um die Befreiung des eigenen Selbst aus biografischen und sozialen Verstrickungen, um die Versöhnung mit sich und seinen Nächsten. Dass dies die Hauptaufgaben sind, begreifen die meisten erst, wenn sich ein Abstand zur sozialen Rolle gebildet hat. Es ist ein großes Manko unserer Kultur, dass dies so spät, nicht selten zu spät geschieht. Wer eine altenfreundliche Gesellschaft fordert, fordert weit mehr, als er denkt.
„Möchten Sie noch einmal jünger sein?“, wurde unlängst eine alte Dame gefragt. Mit erhobenem Zeigefinger platzte sie heraus: „Und keinen Tag zurück!“ So drückte sie ihre Erfahrung aus, dass der Mensch mit dem Altwerden ‒ so bitter es sich im Einzelfall gestalten mag ‒ auf eine höhere Stufe steigt.
Auch wenn es körperlich und geistig bergab geht, führt der Pfad doch noch ein Stück weiter hinauf. Nur Toren rufen nach ewiger Jugend. Grund genug, die Spuren des Alterns nicht wegzuschminken. Tragen wir den grauen Schopf, die kahle Platte, den faltigen Hals erhobenen Hauptes durch die Welt. Alter und Stolz schließen einander nicht aus. Auf zum nächsten Klassentreffen!