Mehr Inklusion wagen

„Inklusion in der Schule? Ist eine schöne soziale Idee, funktioniert aber leider nicht!“ Hand aufs Herz: Entspricht das nicht auch Ihrer Einschätzung? Dass sich Kinder mit Körperbehinderungen bei entsprechender Hilfe in eine Regelschule integrieren lassen, glauben viele. 

Dass aber Hochbegabte und Lernbehinderte zusammen erfolgreich beschult werden können, glauben die wenigsten. Doch woher kommen die Zweifel an einer „Schule für alle“?

Im Kern scheint sich alles um die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten zu drehen. Selbst erfahrene Lehrer befürchten, die schnellen Schüler würden von den langsamen verlangsamt. Eltern haben Angst, ihr leistungsstarkes Kind müsste den Gewinn im zwischenmenschlichen Bereich mit einem schlechteren Schulabschluss bezahlen. Doch solche Befürchtungen entstehen, weil wir uns Schule immer nur so vorstellen, wie wir sie selbst erlebt haben. Wir sehen 30 Schüler vor unseren Augen, die im erzwungenen Gleichschritt von einem Lernfeld zum anderen hetzen. Wer´s nicht kapiert, bleibt auf der Strecke. Eine solche Schule kann in der Tat keine „Schule für alle“ sein. 

Doch der Glaube an den Erfolg von Lernfabriken bröckelt. Wenn die Aufgabe der Schule nur noch darin besteht, junge Menschen so effektiv wie möglich in das Wirtschaftsgetriebe einzupassen, bringt sie immer seltener innerlich reiche und kreative Menschen hervor. Eher gleichförmig denkende und empfindende, zuweilen auch innerlich deformierte.

Fuldas Schulen reagieren: In den letzten Jahren wird mehr Wert auf eine persönliche Atmosphäre gelegt. Allerorten werden Musik- und Theater- AG´s angeboten, Freizeitelemente ins Schulgeschehen integriert. Doch bei allem Respekt: Musische Begleitangebote kaschieren oft nur das alte, überholte Modell. Der entscheidende Konflikt bleibt ungelöst: Übervolle Lehrpläne, eine formalistische Lehrerausbildung und wenig flexibler Unterricht diktieren das Geschehen.

Dabei geht Schule auch innovativ – wenn man sich vom Zwang zur Gleichzeitigkeit verabschiedet. Nicht alle Schüler müssen zur selben Zeit und in der gleichen Zeit das dasselbe tun. Dieser Satz muss der Leitsatz sein, an dem sich die Organisation einer Schule ausrichtet. Jeder Schüler bringt andere Voraussetzungen mit. Er hat eine eigene Weise und einen eigenen Rhythmus des 14 inklusive Schule | nichts für Angsthasen nichts für Angsthasen | inklusive Schule 15 Begreifens sowie anders gerichtete Interessen. Deshalb fragt eine gute Schule nicht zuerst: „Was kann dieser Schüler?”, sondern: „Wer bist du?”

Man muss diesen individuellen Ansatz radikal aufgreifen: Jeder Schüler bekommt, was er in seiner Situation braucht, um weiterzukommen. Natürlich verlangt der durchschnittlich Begabte nach anderem Futter als ein Lernbehinderter oder ein Hochbegabter. Im Grunde aber brauchen alle drei Unterstützung, nicht der eine mehr und der andere weniger. Wo es nicht mehr um Lehrplanerfüllung nach Kalender geht, braucht es keine speziellen Förderklassen oder -kurse, welche die Schwachen beschleunigen. Denn jedes Kind ist zu jedem Zeitpunkt förderungswürdig: Der mathematische Überflieger will gefordert werden, und dies nicht zu knapp. Er bekommt knifflige Extraaufgaben. Der Nachdenkliche gibt sich nicht mit allgemeinen Antworten im Fach Geschichte zufrieden. Er will tiefer graben und erhält Zusatzliteratur. Der Leseschwache braucht in Deutsch besondere Arbeitsblätter und mehr Zeit. Das bekommt er. Der oberflächlich über alle Stoffe Dahintänzelnde braucht entsprechende Gewichte an den Füßen. Seine Lösungsansätze werden stärker hinterfragt. So erfordert jede Situation eine spezielle Antwort des Lehrers. Dieser redet nicht mehr die ganze Zeit auf die ganze Klasse ein, sondern begleitet mit innerer Ruhe die verschiedenen Lernprozesse, die gleichzeitig in Form von Einzel- oder Kleingruppenarbeit ablaufen.

Natürlich braucht es auch Wissensvermittlung. Doch die Stoffe zu beherrschen ist nicht Selbstzweck. Wichtiger sind die indirekt erworbenen Kompetenzen, um sich Themen eigenständig erschließen zu können. Die Reihenfolge der Themen darf unterschiedlich sein, der Schüler darf sogar mitbestimmen. Denn das richtige Thema zur richtigen Zeit ist die halbe Miete. Wenn der Impuls von innen kommt, ist auch genug Kraft da, sich durchzukämpfen, wenn´s schwierig wird.

Und was ist jetzt mit den Behinderten? Falsche Frage! Es ist grundverkehrt, Inklusion von den Behinderten aus zu denken. „Inklusion” ist das Wort für eben jene Situation, in der alle mit im Boot sind und auf die ihnen mögliche Weise mittun dürfen. Bedingungslos. Dabei geht es nicht um Ideologie, auch nicht um rührseliges Gemeinschaftsgefasel. Natürlich entstehen auch an einer inklusiven Schule Spannungen. Auch hier müssen es die Schwächeren aushalten, dass es Starke gibt. Und diese müssen lernen, nicht auf andere herabzusehen. Wenn aber Beschulung von Haus aus beim Individuum ansetzt, begreift jeder schnell, dass man sich im Letzten nur mit sich selbst messen kann. Jeder muss und kann nur seinen Schatz finden – da ist für Entmutigung und Überheblichkeit
kein Platz.

Was wir brauchen, sind Modellschulen, die zeigen dürfen, dass es geht. Solche, die Inklusion wagen. Auch in Fulda. Die alte Schule kann Inklusion nicht.

 

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