250 Begegungen in viereinhalb Stunden

Eine persöhnliche Erinnerung an den 15. Februar 2006 von Arnulf Müller

Um 11.03 Uhr fuhr die Staatskarosse mit dem Bundesadler vor, um 15.38 Uhr rauschte sie wieder davon. Dazwischen: etwa 250 Begegnungen, wenn man nur die geschüttelten Hände zählt. Als wir in der Redaktionssitzung über den Begriff der „Begegnung“ nachdenken, muss ich sofort wieder daran denken, obwohl viele Jahre dazwischen liegen. An dem Tag, als Bundespräsident Horst Köhler antonius besuchte, war es meine Aufgabe, möglichst viele dieser Begegnungen mit der Kamera zu dokumentieren. Es entstand ein Berg von Bildern – und ein bleibender Eindruck.

Alles ist akribisch vorbereitet. Nicht jede gemeinnützige Stiftung erhält einen solchen Ritterschlag. Ein ausgedehnter Parcours wartet auf den Präsidenten: Kartoffelsortierung, Kinderhaus, Backstube, Stuhlflechterei, Laden. Schließlich sollen dem hohen Gast vielgestaltige Eindrücke vermittelt werden, vor allem aber auch ein Gefühl für diesen Ort.


Nach der offiziellen Begrüßung hefte ich mich an seine Fersen, versuche nicht zu stören, aber dennoch gut postiert zu sein. Solche gesellschaftlichen Begegnungen vorteilhaft zu fotografieren, gelingt nicht immer. Mal steht man falsch, mal liegt es am ungeduldigen Hauptakteur, der einer Person die Hand gibt, während er schon zur nächsten schielt. Als Fotograf gilt es, rasch ein Gefühl für Rhythmus und Mimik zu entwickeln. Doch Köhler erweist sich als dankbares „Opfer“. Er blickt allen, die ihm vorgestellt werden, gerade in die Augen, intensiv, ruhig, wohlwollend. Klick. Ich muss nicht hetzen, weil er es nicht tut.
Köhler ist gern hier. Berührungsängste hat er nicht. Offensichtlich will er wirklich erfahren, was hier geschieht. Wie viele solcher Termine ein Präsident im Jahr hat, lässt sich denken. Doch Köhler ist präsent, interessiert, ausdauernd. Das beweist er vor allem, als er zuletzt in die mit Gästen vollgestopfte Cafeteria kommt. Während er beim Rundgang zuvor Menschen in Aktion traf, wo es leicht war, ein kleines Gespräch einzufädeln, ist die Situation nun abstrakt: Leute umringen Stehtische und warten darauf, dass sie dem Präsidenten kurz vorgestellt werden. Rainer Sippel geleitet ihn von Tisch zu Tisch, zeichnet mit wenigen Strichen ein Portrait der jeweils vor ihm stehenden Person und erklärt ihren Bezug zu antonius.

Als Fotograf hat man öfter Gelegenheit, Höflichkeitsroutinen in Politik und Gesellschaft zu studieren. Ohne erprobte Verhaltensmuster wird auf öffentlichem Parkett niemand etwas, das gehört zum Handwerk. Aber Köhler beweist, dass man selbst eine Kurzbegegnung von 30 Sekunden so gestalten kann, dass mehr geschieht. Im Nu stellt er sich auf die Situation ein, vertieft sich in das neue Gesicht und leitet mit einer Frage ein kleines Gespräch ein. Manchmal fällt auch nur eine anerkennende Bemerkung. Aber er verliert sich nicht in Floskeln. Seine innere Ruhe bewahrt ihn nicht nur vor Erschöpfung, sie überträgt sich auch aufs Gegenüber. Das Geheimnis ist: Köhler kann zuhören. Nicht nur mit dem Ohr, sondern der ganzen Haltung nach. Er nutzt das Interesse der anderen nicht aus, um ihnen die eigene Person aufzudrängen oder mit lautem Witz und Schlagfertigkeit Oberhand zu demonstrieren. Er geht nehmend in jede Begegnung hinein, gibt dem Anderen Raum, und wenn es nur durch einen ruhigen, freundlichen Blick ist.
Sicher: Fast alle dieser kleinen Begegnungen wird er alsbald vergessen haben, vermutlich schon hinter der nächsten Kurve. Auch ein präsidialer Kopf kann sich nicht alles merken. Aber der Wert der Dinge hängt nicht an ihrer Dauer. Was zählt, ist die Wahrheit des Augenblicks.
Die Zeit ist um, Köhler bewegt sich auf die schwarze Limousine zu. Er muss nur noch einsteigen, um vom Begegnungsmarathon erlöst zu sein. Da sieht er auf der anderen Straßenseite Zaungäste im Regen stehen, die noch einen Blick erhaschen wollen. Köhler geht auf sie zu, als träfe er alte Freunde. Hier entsteht das letzte Foto aus der Serie. Dass Köhler ungefähr die zweihundertfünfzigste Hand an diesem Tag schüttelt, sieht man dem Bild nicht an. Es bleibt das Gefühl, einem feinen Mann begegnet zu sein.

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