Ich kenne alle Krankheiten
Sportfotograf Charly Rolff im Gespräch, aufgezeichnet von Hanno Henkel und Arnulf Müller
Egal, ob die Sonne vom Himmel sticht oder Hagelkörner waagrecht fliegen: Unerschütterlich hockt er auf seinem Fotokoffer und lauert, sein mächtiges Objektiv im Anschlag, auf das besondere Bild. Was wäre die Welt des Sports ohne Sportberichterstattung? Dank Rolf Günter Herchen – alias Charlie Rolff – können wir die Kämpfe des Vortages beim morgendlichen Kaffee genüsslich nachverkosten. Scharf und in Farbe. Der kauzig-humorige Bildreporter, der auch das Kreisliga-Spiel auf Bundesliga-Niveau ablichtet und seit Jahrzehnten die Region mit wertigem Bildmaterial versorgt, sprach mit dem SeitenWechsel über die Tücken und Freuden seines Berufs.
Herr Herchen, Sie sind mit Ihrer Kamera in ganz verschiedenen Welten unterwegs und arbeiten für sehr unterschiedliche Kunden. Bekannt sind Sie aber vor allem als Sportfotograf. Wie kamen Sie dazu?
Angefangen habe ich 1985. Von Sportfotografie hatte ich keine Ahnung. Helmut Abel, der für die Fuldaer Zeitung Sport fotografierte und aufhören wollte, sollte mich einweisen. Er holte mich an der Zeitung ab mit der Ansage: „Was sie vor allem brauchen, ist ein schnelles und zuverlässiges Auto!“ Dann sind wir Richtung Stadion gefahren und dort, wo heute das Cinestar ist, fiel ihm der Auspuff ab. So fing‘s an.
Sport war also kein Herzenswunsch?
Null. Ich war davor lange im Ausland und hatte ganz andere Sachen vor der Linse. Wer kommt schon von sich aus auf die Idee, Sport zu fotografieren?
Gab's einen persönlichen Bezug zum Sport?
Sport hab ich immer gemacht, vor allem Tennis gespielt.
Also klappte es gleich mit den Tennisfotos?
Bei Sportarten, die mit den Händen gemacht werden, musst du wissen, ob der Spieler Rechts- oder Linkshänder ist. Auch beim Kegeln. Wenn man auf der falschen Seite sitzt, hat er im Bild hin und wieder den Arm vorm Kopf.
Wie haben sie die Finessen gelernt?
Vor allem durch das damalige Magazin „Sport Illustrierte“. Dort hab ich geschaut, wie die Jungs das fotografieren, und zum Beispiel gemerkt, dass Sport aus der Tiefe fotografiert wird, um Dynamik reinzukriegen. Im Fernsehen wird das Spiel von oben nach unten gezeigt, auf Fotos selten. Damals war in unserer Region der Anspruch noch nicht so groß: Das Bild musste scharf sein, der Ball sollte drauf sein.
Wurden die Bälle manchmal nachträglich aufgeklebt?
Das kam vor. Da waren dann am Ende auch mal versehentlich zwei drauf. Ich selbst habe keinen einzigen Ball geklebt. Aber bei einem guten Fußballbild muss nicht zwangsläufig ein Ball drauf sein. Gemerkt habe ich das, als zwei Nachbardörfer gegeneinander spielten und die Mannschaften sich furchtbar in die Wolle kriegten. Ich war so fasziniert von der Szene, dass ich vergaß abzudrücken. Einen ähnlichen Fehler machte ich beim ersten großen Boxkampf mit Dariusz Michalczewski in Frankfurt. Damals wurde noch analog fotografiert mit Filmwechsel und zwei Kameras. Beim Boxen ist jeder Schlag wichtig, denn es könnte der Letzte sein! Dennoch musste ich materialschonend arbeiten und konnte nicht hundert Filme belichten. Also hast du dir immer gesagt: „Das ist jetzt nichts, wie der zuschlägt. Das auch nicht, nimmste den Nächsten.“ Aber der Schlag, der mir zu harmlos schien, hat eben doch gepasst. Und es war der Letzte. Ich hatte zum Glück genügend Schläge eingefangen, aber den Entscheidenden eben nicht. So lernt man das.
Welche Tugenden sind wichtig?
Du musst ständig präsent sein und die Technik kennen. Als man noch mit Film fotografierte, war das umso wichtiger.
War immer ein Film drin?
Ich war viel überregional unterwegs: Boxen, Tennis, Formel 1. Da haben die Kollegen oft gesagt: „Wer niemals vergessen hat, einen Film einzulegen, ist kein richtiger Fotograf.“ Ich bin einer. Für eine Vorschau aufs Deutsche Turnfest bat ich Hansi Buchmann vom Fuldaer Turnverein, an den Ringen in den Kreuzhang zu gehen. Er mühte sich ab, ich knipste und knipste. Als ich draußen war, schaute ich aufs Zählwerk und lese 73. Das konnte nicht sein, ich hatte immer 36er-Filme drin. Also bin ich zurück in die Halle, aber ganz klein. Trotzdem muss man in solchen Situationen auch ein bisschen selbstbewusst sein. Da hab ich gesagt: „Hansi, kannst du nochmal?“ – Er: „Ich kann nicht mehr.“ Er hat es aber nochmal gemacht.
Ein paar Tage später sind wir nach Hamburg gefahren. Ich hatte sogar meine komplette Dunkelkammer dabei, das Turnfest ging ja eine Woche. Die Bilder wurden, weil sie aktuell gebraucht wurden, immer einem Zugschaffner mitgegeben. In Fulda am Bahnhof wurden sie von der FZ abgeholt.
Was war der verrückteste Auftrag?
Das war der WM-Boxkampf in Las Vegas 1995. Wenn Axel Schulz gewonnen hätte, wäre er nach Max Schmeling der erste Deutsche mit WM-Titel im Schwergewicht gewesen. Die Reise war extrem abenteuerlich, weil der gebuchte Flug plötzlich annulliert wurde. Über viele Umwege und auf der letzten Rille – nach anderthalb Tagen – sind wir gerade noch rechtzeitig angekommen. Dann gab es den berühmten Boxkampf, der, wie sich nachher herausstellte, verschoben war. Schulz durfte nicht gewinnen. Er hat George Foreman trotzdem ordentlich verprügelt. Bei der Einreise hatte ich hundert Filme mit und die Dame von der Security bestand darauf: „Alle aufmachen!“ Ich sagte: „Geht nicht, das sind High Sensitive Films!“ Aber keine Chance, ich musste jeden einzeln auspacken.
Welche Sportart fotografieren Sie am liebsten?
Ich nehme es, wie es kommt. Aber Fußball macht schon Spaß.
Auch wenn samstags alle Spiele gleichzeitig statt finden?
Dann musst du ein schnelles und zuverlässiges Auto haben! [lacht] Ich hatte ja nur Gurken: Fiat Uno oder einen Peugot, bei dem der Anlasser hin und wieder nur mit Schraubenzieher und Hammer anging. Wenn man vier Spiele gleichzeitig machen musste, hatte man zwei Stunden abzüglich Fahrzeit. Heute sind es nur noch drei, aber manchmal geht das von Hünfeld bis Flieden. Beim altgedienten FZ-Fotografen Hubert Weber frage ich mich heute noch, wie er das gemacht hat. Da war der Papst in Fulda und eine Viertelstunde später hat er Fußball fotografiert.
Wie ist es, wenn man nur 15 Minuten Zeit hat – und alles spielt sich auf der falschen Seite ab?
Da musst du es machen wie Helmut Kohl: Aussitzen. Wer die Seite wechselt, hat verloren. Du brauchst zwei Minuten mit der ganzen Ausrüstung. In der Zwischenzeit spielt die Musik auf der anderen Seite. Sitzenbleiben hat sich bewährt.
Was reizt Sie an Fußballplätzen?
Ich mag es. Auch, weil man Hinz und Kunz trifft. Du sitzt auf deiner Fotokiste, dann kommt einer: „He Charlie!“ – und macht ein Späßchen. Ich kenne alle Krankheiten. Wenn sie fragen „Und, wie geht‘s, Charlie?“, musst du immer sagen „Gut“. Wenn du nämlich sagst „Ach, nicht so gut“, erwidert dein Gegenüber „Mir auch nicht“, und dann geht es los, dann weißt du alles über Apnoe, Hüfttransplantationen, Arthrose, Keuchhusten und so weiter und kommst nicht mehr zum Fotografieren. Ich liebe diesen Mikrokosmos, diese kleine heile Welt des Fußballplatzes. Anfangs dachte ich: „Das hältst du nicht aus.“ Mittlerweile bin ich fasziniert. Das würde mir fehlen.
Wie kam es zum Pseudonym Charlie Rolff?
Den Namen hat mir die Sportredaktion aus formellen Gründen verpasst. Ich schlug die Zeitung auf und dachte, mich trifft der Schlag. Aber irgendwie ist es dabei geblieben.
Was ist besonders schwer zu fotografieren?
Schwer gibt es nicht. Aber Wasserball ist speziell, weil die Spieler noch während dem Wurf schon wieder unter Wasser sind. Es spritzt, und du siehst nur noch den Gegner. Der Werfer ist weg. Du musst das Spiel lesen und fängst im Prinzip schon vorher an zu knipsen. Das gilt für viele Sportarten.
Wie ist es zum Beispiel mit Langlauf?
Tja, da stehst du in der Rhön, kriegst kalte Füße, kalte Finger, und wie gesagt: Immer schön aus der Tiefe fotografieren. Da liegt man halt mit dem Hintern im Schnee. Besonders krass ist es, wenn man im Anschluss einen Termin im Hallenbad hat. Wer sich damit nicht beschäftigt, hat verloren. Du kommst aus der trockenen Kälte, die Kamera ist extrem runtergekühlt, besonders die schweren Glaslinsen. Dann fährst du nach Fulda, rennst ins Hallenbad mit 80 % Luftfeuchtigkeit und 30 Grad, packst dich kurz ans Herz, öffnest deinen Koffer – und kannst gleich wieder gehen. Das Schlimme ist nicht, wenn die Sachen von außen, sondern von innen beschlagen. Bei einer solchen Differenz dauert es eine gute Stunde, bis man wieder durchschauen kann. Heute löse ich das mit meinem teuren Peli-Koffer.
Ist der beheizt?
Nein, aber ich beheize ihn – mit zwei Wärmflaschen. Das bleibt aber unter uns!
Jetzt steht es aber in der Zeitung.
Ist okay. [lacht] Aufs Wetter wird in dem Beruf keine Rücksicht genommen. Ob es regnet, schneit oder wie letztes Jahr der Sommer: Alle sitzen unterm Stadiondach und trinken kühles Bier und du lässt dich richtig durchkochen. Ich liebe die Sonne, aber das war hart. Da ist es mir lieber, wenn es regnet. Die schönsten Fußballbilder entstehen sowieso im Regen.
Gab es gefährliche Situationen?
Zwei-, dreimal wurde ich abgeschossen. Zuletzt beim Torwandschießen mit Jan-Philip Glania. Ich hatte mich hinters Einschussloch gestellt, weil ich durchfotografieren wollte. Vorher hatte ich mir das kleine Auffangnetz angeschaut, wie viel Abstand ich halten muss, falls er trifft. Er holt aus, das Ding kommt an wie ein Strahl und peng, bekomme ich die Kamera aufs Auge. Zum Glück hat's keiner mitbekommen. Auf dem Fußballplatz bin ich mal richtig abgeschossen worden. Ich schaue durchs Tele, sehe, wie er abzieht, und denk noch: „Das verdichtet sich jetzt aber!“ Da steh ich reflexartig auf und krieg den Ball dorthin, wo es am meisten wehtut. Es war ein Derby mit hunderten Zuschauern. Einige riefen: „Charlie, hat's wehgetan?“ Dann sagst du „Nö“, merkst aber, du musst jetzt sofort hier weg. Der Weg führte nochmal vorbei an 200 Leuten, hinterm Kassenhäuschen musste ich mich dann erst mal übergeben.
Wie ist das bei Sportveranstaltungen für Menschen mit Behinderung?
Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Schwimmbad, ziemlich am Anfang. Ich sollte dort auch einen Fünfkämpfer fotografieren, der nur einen Arm hatte. Mir tat der Typ so leid, da hab ich ihn so fotografiert, dass man sein Handicap nicht sah. In der Redaktion gab's die Rückmeldung: Thema verfehlt! Die Veranstaltung ging über drei Tage, also bin ich nochmal hin. Man sah dort auch Menschen, die frische Kriegsverletzungen hatten. Ich habe das dann so fotografiert, dass ich das Thema garantiert nicht wieder verfehlen würde. Dann hieß es: Können wir nicht drucken, ist zu hart! Also bin ich zum dritten Mal hin und habe mich mit einer Bildkomposition gerettet: Ich bat zwei Rollstuhlfahrer, sich am Beckenrand zu positionieren. Auf ihren Rädern standen die Städte, in denen sie schon waren, und im Hintergrund schwammen Athleten durchs Becken. Ich musste drum kämpfen, dass es groß gedruckt wurde, weil es nur so wirkte. Das war damals unüblich.
Was ist der Reiz eines guten Sportfotos?
Bild ist präsenter als Film. Und technisch ist das Bild dem Film immer noch überlegen. Hier zum Beispiel das Bild der beiden Mädchen mit der fliegenden Brille; das geht im Film unter. Die fliegt so schnell weg, das sieht man nicht. Warum gibt es Superzeitlupe? Weil man sich so dem Bild annähert.
Außer für Ihre Sportbilder sind Sie auch für Ihre sprechenden Portraits bekannt, die für die Ressorts Politik und Kultur entstehen. Gibt es eigentlich jemanden, den Sie noch nie vor der Linse hatten?
Ich hatte sie alle. Nein, im Ernst: Wenn ich die Tagesschau sehe, mache ich manchmal das Spielchen: Wenn in 15 Minuten nicht einer gezeigt wird, den ich jemals fotografiert habe, dann hast du verloren. Kommt aber kaum vor, denn zum Glück kommt immer wieder Frau Merkel. [lacht]
Glauben Sie jedes Wochenende an das besondere Bild? Und ist es schwer, sich nach Jahrzehnten noch zu motivieren?
Jedes Wochenende entsteht ein besonderes Bild. Das kriegt keiner mit, weil es nicht veröffentlicht wird. Ich mach es nach wir vor gerne. Es gehört einfach diese besondere Leidenschaft dazu. Und man muss sich quälen können.