Gefangen in der Warteschleife
„Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleiben muss. Meine Zukunft und mein Schicksal sind vollkommen ungewiss“
Der Himmel ist so grau wie das Gebäude mit den vielen Satellitenschüsseln. Auf dem langen, tristen Flur stehen alte und teilweise verbeulte Spinde, die das Gefühl vermitteln, man befände sich in einer verlassenen Kaserne. Nackte Wände verstärken den trostlosen Eindruck, und hie und da blättert Farbe ab. Einige Zimmertüren sind beschädigt, als habe jemand gegen sie getreten und sie hinterher notdürftig repariert. Der direkte Kontrast ist der neue Fußboden, der vor kurzem verlegt wurde. Ein fremdartiger Geruch steigt in die Nase, und die Stille fühlt sich für uns Besucher fast schon beklemmend an. Obwohl über 100 Menschen in der Asylbewerberunterkunft in der Frankfurter Straße leben, wirkt sie auf uns erschreckend unbelebt.
Zwei Bewohner möchten wir heute treffen und wir haben keine Ahnung, was uns erwartet – ein wenig mulmig ist uns deswegen schon. Vorsichtig klopfen wir an eine der vielen Zimmertüren. Kurz darauf bittet uns der freundlich lächelnde Äthiopier Abdeshekur Achmed Idris (24) herein. Wir fühlen uns nicht nur schlagartig bei ihm willkommen, sondern wir sind es. Dadurch entspannen wir uns schnell und lassen die Blicke schweifen.
Auf engem Raum stehen zwei Sessel, ein Couchtisch, zwei Betten, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch – eine fast komplette Wohnung auf wenigen Quadratmetern. Dennoch ist der Raum überraschend gemütlich und wirkt nicht überladen. Im Fernseher flimmern die Bilder von internationalen Nachrichten, während der Internet-Router beständig vor sich hinblinkt. „Die Telefonleitung funktioniert nicht“, erklärt Idris gelassen, während er Tee für uns kocht. Wenig später gesellt sich Hadju Marud Awel (31) zu uns, der gerne Alex genannt werden möchte.
Seit über einem halben Jahr lebt Idris in der Unterkunft, Alex sogar schon seit knapp zwei Jahren. Ihren Asylantrag haben sie bislang noch nicht stellen können. Das geht nur persönlich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Gießen und auch nur auf Einladung. Obwohl die Gießener Erstaufnahmestelle über 4.700 Betten verfügt, reichen diese derzeit nicht aus. Daher werden Flüchtlinge regelmäßig in hessischen Kommunen vorab verteilt, bevor sie ihren Asylantrag stellen können. Zudem gibt es in Hessen nur 21 so genannte „Entscheider“, die ein Asylverfahren abschließend bearbeiten können. Und zehn von ihnen sind derzeit sogar noch in der Ausbildung. Mitunter kommen an einem Wochenende mehrere Hundert Flüchtlinge in Gießen an. Klar dass die offiziellen Stellen extrem überlastet sind. So sind Idris und Alex in Fulda gelandet, und seitdem stecken die beiden jungen Männer in der Warteschleife fest. Wann genau sie ihren Antrag stellen können, steht in den Sternen. „Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleiben muss. Meine Zukunft und mein Schicksal sind vollkommen ungewiss“, erklärt Alex redegewandt in bemerkenswert gutem Englisch. Der 31-jährige ist medizinisch-technischer Assistent und Pathologe, doch da er keine Arbeitsstelle findet, verbringt er seine Tage mit Kochen und Lesen. „Ich bin kein aktiver Teil der Gesellschaft und trage nichts bei. Meine Rolle kenne ich ebenso wenig, und daher fühle ich mich im Grunde überflüssig“, sagt Idris trotzig-traurig und sprüht dabei dennoch vor Tatendrang. Fast körperlich spürt man im Gespräch, wie sehr ihn das Ausgeschlossen sein belastet. In Äthiopien studierte der junge Mann Medizin und wollte später als Arzt arbeiten. Doch er und Alex kamen dem Regime in die Quere. „International genießt die Demokratie in Äthiopien einen guten Ruf, doch hinter den Kulissen gibt es tausende politische Gefangene und Verfolgte“, sagt Alex im ernsten Ton.
Je höher der Bildungsgrad von Äthiopiern ist, umso öfter organisieren sie sich und hinterfragen das politische System, welches nach den Aussagen der beiden jungen Männer de facto eine Diktatur ist. Kritische Bürger sind für die Machtelite unbequem – sie werden bedroht, geschlagen, inhaftiert. Auch nahe Familienmitglieder geraten mitunter ins Visier. „Mein Medizinstudium durfte ich nicht beenden, und ohne formelle Anklage war ich für zehn Monate inhaftiert“, sagt Idris. „Dabei sind Menschen wie er wichtig für die Zukunft Äthiopiens, denn wir brauchen gut ausgebildete Ärzte“, hakt Alex ein. Auch er konnte seinen Beruf in der Heimat nicht länger ausüben. Im Grunde sei Äthiopien ein schöner Ort zum Leben: Die Menschen seien freundlich und es gäbe auch Zugang zu Bildung. Doch was nützt das am Ende, wenn es gefährlich ist, seine Menschenrechte einzufordern? Für Idris und Alex blieb nur noch die Flucht, denn ihre Zukunft in der Heimat war ihnen als „Querulanten“ verbaut.
Nach beiden wurde gefahndet, und im Vorfeld hatte man ihre Pässe eingezogen. Legal konnten sie deswegen nicht ausreisen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als über die Krisenregionen Sudan und Libyen zu fliehen. Danach folgte die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer, auf der bereits unzählige Flüchtlinge ihr Leben gelassen haben.
Äthiopien blutet zusehends kulturell aus, weil das Land tausende Talente verliert. „Wir sind keine Wirtschaftsflüchtlinge, und wir würden am liebsten in unserer Heimat leben“, stellt Alex klar. „Es waren die politischen Probleme und die erlittene Gewalt, die uns gezwungen haben, unser Land zu verlassen.“
In Fulda sind die jungen Männer endlich in Sicherheit, wofür sie von ganzem Herzen dankbar sind. Dennoch liegen auch hier ihre Talente brach. Erst seit einigen Monaten ist David Rübsamen von der Caritas in der Asylbewerberunterkunft aktiv. Er kümmert sich um die Probleme der Bewohner und vermittelt beispielsweise Deutschkurse an der Volkshochschule. Zuvor waren Idris, Alex und die anderen Bewohner über Jahre vollkommen auf sich alleine gestellt. „Der einzige Deutsche, den wir gesehen haben, war der Hausmeister. Wir wussten nicht, an wen wir uns wenden können, um beispielsweise Deutsch zu lernen.“ Welche Behörde wofür zuständig ist, ist schwer zu durchschauen.
Eine weitere Hürde ist das schwebende Asylverfahren der beiden, denn so haben sie kein Anrecht auf einen Intensivsprachkurs. Wer nicht über das nötige Geld verfügt, um aus eigener Tasche einen ähnlichen Lehrgang zu finanzieren, geht leer aus. „Die Sprache ist der Schlüssel zur Teilhabe“, betonen die beiden mehrmals. Tatsächlich gäbe es in Deutschland unendlich viele Möglichkeiten, sich frei zu entfalten. Für die beiden Äthiopier sind sie zum Greifen nahe und doch meilenweit entfernt.
„Echte Integration ist mehr als ein Schlafplatz und Geld für Kleidung und Lebensmittel“, sagt Idris. Dahinter steckt auch der Wunsch nach sozialen Kontakten sowie nach Austausch und das Gefühl, angekommen zu sein und wertgeschätzt zu werden. Doch es gibt Vorbehalte und Ängste, nicht nur bei den Fuldaer Bürgern, sondern auch bei den Äthiopiern. Vollkommen alleine in einer fremden Kultur, ziehen sie sich mitunter auf „sicheres Terrain“ zurück und bleiben unter sich. Im Grunde fürchten sie sich davor, abgelehnt zu werden. „Wenn ich durch Fuldas Straßen laufe, fühle ich mich einsam“, bringt es Alex auf den Punkt. Er sorgt sich, jahrelang in einer Parallelgesellschaft zu leben. „Einerseits sind wir frei, und auf der anderen Seite ist es wie im Gefängnis“, meint Idris. Nur mit großem bürokratischem Aufwand ist es möglich, sich einigermaßen einen Weg durch den Behörden-Dschungel zu bahnen. Ohne Hilfe ist das für die meisten Flüchtlinge kaum zu schaffen. Dabei ist das Nichtstun für viele zermürbend und sorgt regelmäßig für Frust – der sich auch mal entladen kann.
Ein schönes Erlebnis hatten die beiden kurz vor Weihnachten, als Mitglieder der Evangelischen Allianz, eines Netzwerkes evangelischer Freikirchen, Geschenke gebrachten und sich lange mit den Bewohnern des Hauses unterhielten. „Das war eine tolle Zeit“, erinnert sich Idris, der beim Erzählen sichtlich aufblüht. „Plötzlich hat sich jemand für mich interessiert, so dass ich mich für in diesem Moment nicht mehr ignoriert gefühlt habe.“ Mangels Gemeinschaftsräumen fand die Aktion allerdings auf den tristen Fluren und im Stehen statt. Ein weiteres Highlight für die beiden ist der „Kaffeetreff“, der ebenfalls im Flur mittwochs von der Welcome Initiative Fulda ausgerichtet wird. Bei Kaffee, Tee und Kuchen kommen die Menschen hier einander näher. Auch der engagierte Sozialarbeiter Rübsamen versteht seine Arbeit als eine Art „Brückenbauer“, der Asylsuchenden die deutsche Kultur näherbringen und ihnen das Einleben erleichtern möchte.
Obwohl ihre Zukunft ungewiss ist, haben Idris und Alex ein genaues Bild von ihr: Beide möchten so viel Bildung wie möglich einsaugen. Und solange sie in Deutschland leben, möchten sie ein aktiver Teil der Gesellschaft sein. Sie brennen förmlich darauf, ihre Talente weiterzuentwickeln und sich frei auszuleben. Doch das eigentliche Ziel ist ihre Heimat: „Hier in Deutschland lerne ich, was Demokratie bedeutet. Zuhause möchte ich für unterdrückte Menschen einstehen, denn auch sie sollen sicher leben und die Zukunft unseres Landes mitgestalten können“, erklärt Idris. Auch Alex möchte sein Wissen weiter mehren, um später als Menschenrechtsaktivist wirken zu können. Über den notwendigen Tatendrang verfügen beide im Überfluss, bleibt zu hoffen, dass sich ihnen dazu auch die entsprechenden Wege öffnen. Zumindest die ersten Schritte können wir Fuldaer ihnen ermöglichen.
von Jens Brehl