Vorwort: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“
Bei der Durchsicht der Beiträge zu diesem Heft beobachte ich mich dabei, dass mir manche Passagen trotz allen Insiderwissens irgendwie fremdbleiben.
Ich lese und verstehe die Worte,und doch bleibt am Ende ein Gefühl, nichtwirklich zu verstehen, wovon die Rede ist.
Was ist eigentlich das Fremde? Und warum fällt es so schwer, Denk- und Handlungsweisen zu verändern, wenn sich der Eindruck des Fremden erst einmal im Denken eingenistet hat?
Bei Zygmunt Bauman finde ich: „Fremde bedeuten das Fehlen von Klarheit, man kann nicht sicher sein, was sie tun werden, wie sie auf die eigenen Handlungen reagieren würden; man kann nicht sagen, ob sie Freunde oder Feinde sind – und daher kann man nicht umhin, sie mit Argwohn zu betrachten.“
Argwohn – ja, das erklärt so einiges. Offensichtlich hat es damit zu tun, dass sich der Bereich des Vertrauten, des Eigenen, gewissermaßen von selbst erklärt, während das, was das Fremde ausmacht, beschrieben und definiert werden muss. Ihm geschieht Definition – und das logischerweise aus der Sicht ihm nicht Angehöriger.
Die täglichen Begegnungen mit dem Fremden beinhalten immer gleichzeitig zwei Aspekte: Sie sind einerseits bedrohlich, weisen andererseits aber auch Möglichkeiten auf. Welcher der Aspekte bei Ihnen oder bei mir zum Tragen kommt, hängt ganz wesentlich von den seit unserer Kindheit entwickelten psychischen Strukturen ab. Kurz gesagt: Je mehr Klarheit wir über unsere eigene Identität haben, umso eher werden wir dazu neigen, die Begegnung mit dem Fremden als Chance zu betrachten und ihm offener und mit der Bereitschaft zum Dialog entgegenzutreten.
Trotzdem bleiben bei dem Kontakt mit dem Fremden Verunsicherungen. Die Sicherheit, die wir aus den Begegnungen mit dem Vertrauten kennen, wird brüchig und trägt nicht mehr. Man kann sogar das Gefühl haben, gar nicht mehr zu wissen, wie man sich verhalten soll. Wessen Regeln sollen denn nun gelten? Wer bestimmt die Art und Form des Dialogs? Darf ich sie bestimmen? Der Blickkontakt wird schwierig; am liebsten würde man der Begegnung jetzt ganz aus dem Weg gehen.
Aber diese Verunsicherung kann auch produktiv werden, wenn sie ein erster Schritt aus einer Selbst Verständlichkeit heraus ist, die zögernd zu fragen beginnt und allmählich bereit ist, das eigene Nichtwissen einzugestehen, manchmal auch das eigene Nichtwissenwollen.
So gesehen, sind die Seitenwechsel, zu denen wir Sie mit unserem Magazin und auch in diesem Heft wieder einladen wollen, nicht immer nur äußerliche Aktivitäten. Sie fordern auch dazu heraus, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen; sich seiner selbst sicherer zu werden. Dann muss man sich den fremden Anderen auch nicht länger vom Leib halten.
Wenn Sie also für das neue Jahr (noch) keine guten Vorsätze gefasst haben: Wie wäre es mit einem Seitenwechsel?
In diesem Sinne...wünschen Ihnen ein gutes Neues Jahr,
Hanno Henkel und das gesamte Redaktionsteam!