Es war einmal...

„Na, dieses rote Gebäude, wo jetzt das Deutsche Sozialmuseum drin ist“ (Erika Melcher)

Julia: „Klar kann ich mich da noch daran erinnern. Obwohl das ja jetzt schon über 35 Jahre her ist! Da hab ich schließlich mal gearbeitet. ›Antoniusheim‹ hieß das. Na, dieses rote Gebäude, in dem jetzt das Deutsche Sozialmuseum drin ist. Oben, am Münsterfeld. Da kannst du dir übrigens mal anschauen, wie das früher war mit den Behinderungen und dem Altsein.“

Schüler im Praktikum: „Wann haben die das denn dichtgemacht?“

Julia: „Ich glaube, das war schon 2018. Da wurden ja alle Heime geschlossen.“

Schüler: „Echt, alle?“

Julia: „Ja, die Altenheime auch. Diese Riesendinger, wo irgendwann keiner mehr hin wollte. Erst wurden hektisch noch ganz viele gebaut davon, weil man sah, dass die Leute immer älter wurden. „Seniorenresidenzen“ nannte man das schönfärberisch. Aber schon 10–15 Jahre später war das Schnee von gestern. Die meisten wurden wieder abgerissen oder anderweitig genutzt.“

Schüler: „Wurden denn die Menschen mit Behinderungen, mit Demenz und die gebrechlichen Leute einfach auf die Straße gesetzt?“

Julia: „Auf der Straße standen die nicht. Das ging ja auch nicht von heute auf morgen. Da gab´s erst einen Riesenstreit deswegen. Die Heime aufl ösen! Das war ewig Thema in den Zeitungen (damals gab´s noch ›Zeitungen‹, so richtig auf gedrucktem Papier und nur einmal am Tag).“

Schüler: „Wieso Streit?“

Julia: „Na, die meisten wollten das nicht. Viele Politiker nicht, wegen der Kohle. Aber auch viele, die in solchen Einrichtungen gearbeitet haben, hatten Angst, dass es dann abwärts gehen würde mit den Betroffenen. Dass diejenigen, die vorher in Gemeinschaften gelebt hatten, vereinsamen würden. ›Das klappt doch nie!‹, haben die Erzieher und Sozialarbeiter gesagt (so hießen die früher). So ein flexibles Logistiksystem wie heute, das die Hilfeleistungen individuell und vor Ort koordiniert, gab´s noch nicht. Das musste ja erst aufgebaut werden. Als dann aber diese Menschen in normalen Appartements in ganz Fulda und Umgebung untergebracht wurden und quasi mit Hauruck verselbstständigt wurden, ging´s doch recht schnell. Das musste dann auch schnell gehen.“

Schüler: „Und wie war das dann für dich im Job?“

Julia: „Na, ich hatte auch Bedenken. Ich hing ja total an den Leuten von der Wohngruppe, in der ich gearbeitet hatte. Das war eine tolle, familiäre Atmosphäre da in dem Antoniusheim. Jeder kannte jeden. Irgendwie lebendig war das, richtig „cool“ eben (so nannten wir das, wenn uns etwas gefiel). Und das sollte jetzt aufgegeben werden? Das konnte ich erst gar nicht glauben. Dass das richtig war, habe ich erst später begriffen. Weil die alten und behinderten Menschen viel mehr gefordert wurden durch die Aufl ösung, ist viel passiert mit ihnen. Fast alle haben das gut gepackt und einen Riesenschritt nach vorne gemacht. Für manche war es aber auch hart.“

Schüler: „Und du wurdest dann nicht arbeitslos?“

Julia: „Nein, im Gegenteil. Unsere Berufsgruppe war auf einen Schlag wichtiger als zuvor. Wir bauten das neue System ja mit auf. Eine richtige Pionierzeit war das. Innerlich ging es uns eigentlich genauso wie den Heimbewohnern. Da wurden auch wir Sozialfuzzis (wie man uns damals scherzhaft nannte) ganz schön gefordert und mussten  zulegen. Wir mussten plötzlich viel selbstständiger arbeiten als in so einer Einrichtung.“

Schüler: „Und wie sah das konkret aus?“

Julia: „Wir mussten unseren Tag eigenständig planen. Wir sind mit unseren kleinen, gelben Elektroautos überall hingefahren. Auf den quirligen Kisten stand damals fett in Leuchtschrift „SMS“, das stand für „Social Mobile Service.“ Diese kleinen Autos gab´s damals noch viel häufi ger als Taxis. Am Anfang wurden auch total viele neue Leute eingestellt, die zu den hilfebedürftigen Menschen nach Hause, an deren Arbeitsplätze oder in ihre Schulen gefahren sind. Da gab´s bald keinen Ort in Stadt und Land, an dem nicht einer von uns präsent war. Unsere Arbeit vollzog sich jetzt nicht mehr für die Bevölkerung unsichtbar hinter irgendwelchen Mauern am Stadtrand, sondern mittendrin, überall eben. Jeder hatte, um sich um die Belange seiner Leute zu kümmern, mit tausend anderen Kontakt. Neben der konkreten Hilfe für den Einzelnen waren jede Menge Networkingund Managementaufgaben zu erledigen. Total vielseitig war das, aber auch zeitintensiv. Deswegen gab´s immer wieder Streit. Keiner wollte das bezahlen. Früher was das halt billiger zu machen. Da lebten zehn schwerbehinderte Personen ihr ganzes Leben auf einer Etage zusammen – ja, das 
gab´s wirklich früher.

Schüler: „Krass!“

Julia: „Da kam man mit zwei, drei Sozialarbeitern gerade so klar. Das Ganze nun in zehn barrierefreien Appartements zu realisieren kostete deutlich mehr. Aber irgendwie brachte man das Geld auf, zumal ja auch einiges eingespart werden konnte – eben die Heime selbst und deren Unterhaltung. Früher wurde das ganze Geld für Sozialausgaben übrigens zentral verwaltet. Aber dann bekam jeder endlich sein persönliches Budget. Die Empfänger fanden das richtig klasse. Wenn ein gebrechlicher Mensch mit seinem Assistenten, der täglich zu ihm kam, nicht klar kam, engagierte er einfach einen anderen. Das war revolutionär zu dieser Zeit. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen.“

Schüler: „Wieso sieht man diese Autos mit dem Schriftzug heute so selten? Es gibt doch noch genauso viele Hilfeempfänger?“

Julia: „Ja, weil es heute weit weniger Bedarf an professioneller Hilfe gibt. Das ist ein echter Erfolg. Die Aufl ösung der Heime hat einen nachhaltigen Effekt erzielt: Alte, kranke, depressive und behinderte Menschen sind jetzt weitaus besser integriert. Die leben ja jetzt mittendrin. Bei unserer Netzwerkarbeit mussten wir am Anfang brutal dicke Bretter bohren. Da gab´s nur wenige, die Verantwortung in ihrer Nachbarschaft übernehmen wollten. Alle hatten noch die Einstellung: ›Gebt solche Menschen doch in Heime, da geht´s denen gut, da kümmert man sich doch drum!‹. Auf den Heimen hatte sich die Gesellschaft ganz schön ausgeruht. Keiner fühlte sich zuständig. Aber das hat sich dann geändert. Als die Heime weg waren, organisieren. Überall in den Stadtteilen und Gemeinden entstanden diese Büros, wo engagierte Bürger am sozialen Netz strickten und ohne große Bürokratie Hilfeleistungen koordinierten. Auch die Kirchgemeinden spielten dabei eine große Rolle. (Die haben seit dieser Zeit ja auch wieder enormen Zulauf.) Jedenfalls werden jetzt bis zu 40 % der Betreuungsleistungen nachbarschaftlich erbracht. Das ist unglaublich. Hätte man die Heime nicht geschlossen, wären das auch heute noch höchstens 8 %. Aber das Wichtigste ist natürlich, dass sich die Lebensqualität der Betroffenen massiv verbessert hat, durch ihre große Selbstverantwortung eben und durch ihre Einbindung in das ganz normale Leben.

Schüler: „Das ist alles schon sehr spannend. Wenn ich dich so reden höre, will ich vielleicht doch Social Logistic Management studieren. Ist doch ein klasse Beruf. Warst du eigentlich einmal in diesem Museum?“

Julia: „Ja, schon ein paar Mal, neulich erst mit meinen Enkelkindern. Die konnten das kaum glauben, dass ich als junge Frau da mal gearbeitet habe. Da kann man heute noch meine Gruppenräume sehen, mit den ganzen Möbeln und den Uralt-Computern usw. Viele Videoclips von dem Leben damals werden gezeigt. Und auch einige Dinge sind zu sehen, die die Menschen damals hergestellt haben in der „Kreativ- Werkstatt“ – so hieß das damals. Schon interessant. Lustige Sachen waren das. Da saßen viele Menschen, die Behinderungen hatten, in einem Raum zusammen und haben getöpfert, genäht und gearbeitet. Und viele haben das dann gekauft, weil sie die „armen Menschen“ unterstützen wollten. Wenn man sich das heute so vorstellt …. Na ja, war halt eine andere Zeit damals. Lass uns doch da mal zusammen hingehen.“

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