Erkenne dich selbst – der fünffache Weltmeister Sergej Braun
Ein Plädoyer für den Kampfsport, von Anna-Pia Kerber (Text und Bilder)
Das Leben ist gefährlich. Für den einen mehr, für den anderen weniger. Doch wer glaubt, die Gefahr komme von außen, der irrt. Die Gefahr wohnt nicht in Waffen, Flugzeugen und Mitmenschen. Die größte Gefahr wohnt in uns selbst. In Routine und Vorurteilen, in Bequemlichkeit und in angehaltenem Atem. Mit anderen Worten: Die Gefahr wohnt in der Angst, seine Komfortzone zu verlassen. Wer es schafft, sie zu überwinden, wird reicher. Und hat intensiver gelebt. Ein Weg dorthin ist der Kampfsport.
„In 12 Runden lernen sich Boxer besser kennen, als so manche Menschen in 12 Jahren im Büro“, hat einmal der deutsche Box-Promoter Wilfried Sauerland gesagt. Eine Aussage, der Sergej Braun nur zustimmen kann. Der 29-jährige Fuldaer ist fünffacher Kampfsport-Weltmeister und Europa-Champion und hat in seiner 18-jährigen Karriere zahlreiche weitere Siege errungen. Den fünften WM-Titel holte er gerade Mitte Februar beim Super Cup Kickboxing in Erzhausen bei Frankfurt – mit einem bemerkenswerten Drehkick gegen den Kopf und einer Reihe schwerer Schläge, die den Gegner Hamza Sivro außer Gefecht setzten. Sergej ist Kyokushin Karate-Profi, Kickbox-Profi und K1-Fighter – und der ausgeglichenste Mensch, den man sich vorstellen kann.
Im Ring glänzt er mit Schnelligkeit und Präzision. Eine große Fangemeinde begleitet ihn zu Wettbewerben. Viele wollen die Spannung erleben, die in der Arena herrscht, den besonderen Reiz, wenn zwei Menschen sich aneinander verausgaben – und unter Umständen mächtig vermöbelt werden.
Niemand kann leugnen, dass ihm das Herz schneller schlägt, wenn das Blut tropft. Niemand kann den Blick abwenden, wenn ein harter Schlag trifft. Das dumpfe Geräusch auf der Haut, Schweißtropfen an den Schläfen, Blut an Nase und Kinn – ist es das, worum es beim Kampfsport geht? Um unsere archaische Lust am Schmerz, die schon vor tausenden Jahren das Publikum zu Gladiatorenkämpfen lockte?
Kyokushin – das bedeutet im Japanischen ‚ultimative Wahrheit’. Ein hoher Anspruch an einen Sport.
Sergej Braun erklärt, warum. „Hier zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen“, hat er beobachtet, „sein Durchhaltevermögen und seine Grenzen. Es zeigt sich, woraus er besteht – wann er aufgibt und wie weit er gehen kann.“
Woraus ein Mensch besteht. Das ist etwas, das wir im Alltag nur selten zu sehen bekommen. Vielleicht niemals. Im Alltag begegnen wir uns meist mit Masken. Es funktioniert, aber das wahre Wesen eines Menschen bleibt verborgen.
Kyokushin ist viel mehr als ein Sport – es ist eine Haltung. Sergej lebt diese Haltung. Mit Äußerlichkeiten kann er nichts anfangen. „Männer in Anzug und Krawatte gehören nicht zu meinen Favoriten“, gesteht er mit einem Lächeln. Eine Begegnung in Sportkleidung ist ungezwungener. Außerdem kann man so jedem auf Augenhöhe begegnen.
Auf Augenhöhe nähert Sergej sich allen Menschen – besonders Kindern. Neben seiner Karriere als Profi-Sportler betreibt er eine Kampfsportschule in Kohlhaus. Sergej hat ein einzigartiges Gespür dafür, was Kinder brauchen und was man ihnen abverlangen kann. „Viele Eltern kennen ihre Kinder gar nicht richtig“, ist seine Erfahrung. „Aber nach sechs Stunden Unterricht zeigt sich, was in ihnen steckt.“
Der Profi-Sportler hat seine Ausbildung zum Sozialassistent in der Konrad-Zuse-Schule abgeschlossen. Der Plan, nach der Ausbildung noch ein Studium zu absolvieren, musste allerdings geändert werden – zu plötzlich war der Erfolg seiner Schule, zu groß der Arbeitsaufwand in der Selbstständigkeit. Inzwischen hat er über 200 Schüler.
Der positive Effekt des Trainings zeigt sich in allen Lebensbereichen. Die Kinder werden selbstbewusster, ruhiger und lernen, mit Konflikten besser umzugehen.
„Wenn sich jemand nicht benehmen kann oder schlechte Noten nach Hause bringt, steckt dahinter oft nur der Wunsch nach Aufmerksamkeit“, sagt Sergej. „Aber materielle Aufmerksamkeiten oder Geschenke verbessern die Situation nicht“, sondern die Erfolgserlebnisse, die man erfährt, wenn man an seine Grenzen geht und dafür Lob und Anerkennung bekommt. Kaum verwunderlich, dass die Schüler gerne Zeit mit Sergej verbringen und sich ihm anvertrauen, wenn das Verhältnis zu den Eltern schwierig ist.
Im Alter von 11 Jahren hat Sergej selbst mit dem Kampfsport begonnen, mit dreizehn Jahren hatte er seinen ersten Kampf. Zuerst lernte er Karate, dann das Kickboxen. Den Unterschied beschreibt er so: „Beim Karate geht es um Achtung und Tradition. Hier geht man viel respektvoller und höflicher miteinander um.“ Ein wenig anders ist das beim Kickboxen. Das ist „europäischer“.
Sehr harte Schale, sehr weicher Kern
Sergej kann sich in beiden Welten sicher bewegen: der westlichen und der östlichen. Er ist oft in Japan und Thailand gewesen und hat die Menschen studiert. An der Haltung, an der Gangart und den Bewegungen eines Menschen kann er bereits sehr viel ablesen. Trotz seiner sicheren Menschenkenntnis haben ihm allerdings auch die Japaner Rätsel aufgegeben. „Es ist schwer, an sie heranzukommen“, bestätigt er, „weil sie sehr an sich halten.“ Spätestens im Ring zeigt sich, mit wem man es zu tun hat – das ist der Moment, in dem Sergej sich wohler fühlt.
Er ist stets direkt und zieht es vor, die Wahrheit zu sagen – auch wenn die unangenehm ist. Zum Beispiel, wenn Eltern mit falschen Erwartungen auftreten. „Einem Jungen lag das harte Kämpfen nicht, er hatte keinen Spaß dabei, aber sein Vater wollte unbedingt, dass er das macht. Ich habe ihm gesagt, dass der Junge dafür nicht geeignet ist.“
Was einen Kämpfer auszeichnet, ist die Art, wie er mit Herausforderungen umgeht. Und dass er weitermacht, auch wenn es eben weh tut. „Wer sich immer nur gezielt schwächere Gegner sucht, ist kein Kämpfer“, ist Sergejs Meinung.
Sergej selbst hat es dagegen bei Wettkämpfen auch mit gleichwertigen Gegnern zu tun – wie jüngst in der Fraport Arena in Frankfurt. Bei der Mixed Fight Championship im Dezember verlor er den Kampf mit 2 zu 1 Punktrichterstimmen – und das trotz eines ausgewogenen Kampfes. Ist Kampfsport ein gerechter Sport? Nicht immer. „Menschen urteilen, und Menschen machen Fehler. Ich kann damit leben“, sagt Sergej. Nach einem Kampf bedankt er sich stets bei seinem Gegner – ganz gleich, ob als erfolgreicher Sieger oder guter Verlierer.
Was braucht man, um bei einem Wettkampf in den Ring zu steigen? Was man definitiv nicht brauchen kann, ist Angst. Sonst hätte Sergej keine 300 Kämpfe bestreiten können. Womit allerdings auch er immer wieder hadert, ist die Konzentration. „Mir gehen vor einem Kampf so viele Dinge durch den Kopf. Aber Angst lasse ich gar nicht erst aufkommen. Wenn du dich von deinen Emotionen leiten lässt, hast du nichts mehr im Griff.“
Stattdessen gilt es, den Gegner aus der Reserve zu locken. „Wenn du den Gegner wütend machst, wird er Fehler machen. Du musst ihn dazu bringen, an sich zu zweifeln.“
Es ist ein Ziel des Kampfsportes, Emotionen beherrschen zu lernen. Auf Sergejs Webseite heißt es dazu: „Es geht eben nicht darum, ohne Kopf und Verstand loszuprügeln, sondern mit Ruhe und Übersicht ein Ziel zu erreichen. Durch das Boxen lernt der Hitzkopf Demut, Ausgeglichenheit und Selbstkontrolle, während der Schüchterne mit kleinem Selbstvertrauen diese Schwäche überwinden kann und mehr Selbstbewusstsein und Überzeugung gewinnt.“
Wie viel Wahrheit darin liegt, spürt man an der Art, wie behutsam Sergej mit Menschen umgeht. Er ist geduldig. Und er hat es nicht nötig, etwas zu beweisen.
Schon damals, während seiner Zeit als Türsteher, hat er Konflikte lieber verbal ausgetragen. „Ich kann reden, reden, reden“, sagt er über sich selbst. „Ich diskutiere gern. Meine Kollegen hatten immer mehr Stress.“
Das möchte er auch seinen Kindern beibringen. „Wenn du von jemandem beleidigt wirst, solltest du zuerst mit ihm reden.“ So erklärt er es seinem Sohn. Dieser ist fünf Jahre alt – und hat sich gerade zum ersten Mal selbst im Kampfsport versucht. „Er möchte natürlich ausprobieren, was Papa den ganzen Tag macht.“ Mit einem Lächeln, in dem sehr viel Liebe liegt – und sehr viel Stolz. Seine Frau und seine beiden Kinder bedeuten ihm mehr als alle beruflichen Erfolge. „Reichtum ist für mich meine Familie. Und meine Freunde.“
Was seine Frau fühlt, wenn er in den Ring steigt? „Sie kennt es ja nicht anders von mir.“ Sergej lächelt. „Aber einmal habe ich richtig etwas abbekommen und mein gesamtes Gesicht war blutig. Da hat sie fast einen Herzinfarkt bekommen.“ Er hebt die Schultern, tut den Vorfall ab. Vielleicht denkt er nicht gern daran, dass man sich Sorgen um ihn machen könnte.
Vorgesorgt hat er dennoch. „Es war überhaupt nicht einfach, eine Lebensversicherung für mich abzuschließen. Aber mithilfe eines Freundes habe ich eine durchgeboxt.“ Er grinst.
Dass eine Karriere im Kampfsport nicht ewig dauert, ist ihm sehr wohl bewusst. Die Laufbahn kann mit Mitte Dreißig enden – in seltenen Fällen mit 50 Jahren. „Aber so lange werde ich das nicht machen. Das halten meine Gelenke nicht durch.“ Trotzdem werde er weiterhin Sport machen, „bis ich tot umfalle. Ohne Kampfsport würde ich am Rad drehen.“
Am Rad drehen – ein Gefühl, das gar nicht erst aufkommen kann, wenn man sich regelmäßig körperlich verausgabt. Etwas, das jeder zumindest einmal ausprobieren sollte. Den Körper spüren, statt sich im Geist zu verrennen. Grenzen ausloten, um herausfinden, was in einem steckt. Auch wenn es weh tut.
Das Leben ist gefährlich. Aber vor allem ist es endlich. Deshalb will es ausgeschöpft werden: zu einem tiefen, echten Dasein.
„Was man definitiv nicht brauchen kann, ist Angst.“
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