Ein Junge, ein Physik-Nobelpreisträger und viel Liebe zum Detail.

Wer kennt das nicht? Man ist so sehr mit einem Thema beschäftigt, dass es einen nicht mehr loslässt. Man dreht und wendet es in seinem Kopf hin und her, bis man zu einer Lösung gelangt – oder auf einen ganz neuen Gedanken kommt. 

Oder einfach aufgibt. Aber was ist, wenn man den Gedanken einfach nicht loslassen kann? Wenn man das Thema bis ins kleinste Detail durchdenken muss? Dann wächst der Gedanke wie eine Wurzel aus dem Boden, wird zu einem mächtigen Baum und gibt erst Ruhe, wenn man sich bis in die höchste, winzigste Verästelung hochgearbeitet hat. Und während man darüber nachdenkt, vergisst man einfach die Menschen um sich herum. Man vergisst, zu essen und zu trinken und sich die Schuhe zuzubinden. So geht es Niklas.

Magnetresonanztheorie? Na klar!

Niklas ist 19 Jahre alt, hat das Asperger Syndrom und besucht das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Lauterbach. Seine Leistungsfächer sind Chemie und Mathematik, außerdem liebt er Physik: Damit kann er sich so intensiv beschäftigen, dass er die Welt um sich herum vergisst.

„Physik ist logisch“, sagt er. „Sie ist einfach und berechenbar.“ Es fällt ihm leicht, Formeln zu verstehen und sich in komplizierte Theorien hineinzufinden. Viel leichter als den meisten anderen Menschen. Die Konzentration auf Details gibt ihm Halt. Dafür fällt es ihm schwer, die alltäglichen Dinge im Auge zu behalten. Aber sind die wirklich großen Denker in der Geschichte nicht oft am Alltäglichen gescheitert?
Einen dieser großen Denker durfte Niklas kennenlernen. Es ist der Physik-Nobelpreisträger Peter Grünberg. Eine seiner wichtigsten Entdeckungen ist der GMR-Effekt: der Riesenmagnetowiderstand.

Im Jahr 2008, als Niklas gerade vierzehn Jahre alt war, hat er den Physiker zum ersten Mal im Forschungszentrum Jülich getroff en. Dorthin war Niklas eingeladen worden, um an einer Magnetresonanz- Studie teilzunehmen. Bei dieser Studie ging es darum, Gefühle zu verstehen, und zu messen, welche Gehirnströme dabei aktiv sind.

Denn Gefühle sind etwas, womit Niklas manchmal nur schwer umgehen kann. Er hat Angst vor der Fülle an sozialen Regeln und den vielen Möglichkeiten der Interpretation, die in einem Gespräch verlangt werden.
In Jülich hielt sich zu diesem Zeitpunkt auch Peter Grünberg auf, der dort auch nach seiner Pensionierung noch forscht. Niklas’ Familie erkannte Herr Grünberg, weil ihm im Jahr zuvor der Nobelpreis verliehen worden war – und weil er früher einmal in ihrem Heimatort gelebt hatte. Außerdem hat Grünberg, ebenso wie Niklas, die Alexander-von-Humboldt-Schule besucht.

„Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen.“ Friedrich Dürrenmatt

Niklas ist zurückhaltend und vorsichtig. Er wollte sich dem Physiker nicht aufdrängen. „Ich dachte, jemand wie er möchte auch mal seine Ruhe haben. Schließlich wird er immer von der Presse belagert“, erzählt er. Doch seine Eltern überredeten ihn dazu, mit dem Forscher zu sprechen. Zum Glück. Denn Grünberg war so begeistert, dass er Niklas einlud, ihn in seinem Labor zu besuchen.

„Es ging alles von ihm aus“, sagt Niklas schüchtern. Und so kam es, dass Niklas einen Blick in die Arbeit des Nobelpreisträgers werfen durfte. „Er hat sich viel Zeit genommen“, berichtet Niklas. Und obwohl er zu diesem Zeitpunkt erst vierzehn war, erklärte Grünberg ihm eine seiner Theorien, in der es um Magnetfelder und Sensoren geht. „Heute verstehe ich das natürlich besser“, meint er und legt los: Doch bereits nach ein paar Sätzen wird es für Nicht-Physiker schwer zu folgen. „Das müssen Sie doch verstehen“, wundert sich Niklas. „Ich nehme an, Sie haben Abitur.“ Und dieses Wundern gehört eben dazu, wenn man so ist wie Niklas. Wenn einem komplizierte Theorien weniger Schwierigkeiten bereiten als Routineaufgaben.

Niklas lebt gerne auf dem Land. Er verbringt viel Zeit im Garten. Dort kann er in Ruhe seine Gedanken ordnen. Seine Mutter ist froh, dass er nicht in der Stadt aufwachsen musste. „Das wäre die reinste Reizüberfl utung“, sagt sie. „Niklas braucht Zeit, um Eindrücke zu verarbeiten.“

Man kann sich das in etwa so vorstellen, als hätte man keine Filter, die die vielen Reize von außen auf das Wesentliche beschränken. Man nimmt alles auf einmal auf und kann sich nicht dagegen wehren. Aus diesem Grund hatte Niklas am Anfang Integrationshelfer in der Schule. Diese halfen ihm dabei, sich zurechtzufi nden, wenn er einmal wieder in Gedanken abschweifte. Fachlich braucht Niklas keine Hilfe.

„Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.“ Albert Einstein

In seiner Heimat ist er einer der Vorreiter, die trotz Asperger Syndrom auf das Gymnasium gehen – auch wenn sich die Familie das Recht darauf erst erkämpfen musste. Probleme gab es eher in der Grundschule. Während Niklas bereits komplizierte Formationen und Rohrleitungssysteme aus Lego bauen konnte, fiel es ihm schwer, sich an andere Kinder zu gewöhnen. Bei einem Intelligenztest wurde festgestellt, dass er eine deutliche Hochbegabung im Bereich der Naturwissenschaften aufwies.

„Nur wenn mir etwas nicht gelang, bin ich manchmal ausgerastet“, gibt Niklas zu. Oder wenn unvorhergesehene Dinge passierten. Doch die Wut war nur ein Ausdruck der großen, inneren Anspannung. „Was wir als Trotz missverstanden haben, war in Wirklichkeit nur sein innerer Zwang, alles auf einmal und richtig machen zu wollen“, erklärt seine Mutter.

Durch verschiedene Therapien hat er das mittlerweile gut in den Griff bekommen. Aber Kritik nimmt er sich noch immer sehr zu Herzen.

„Wenn mir jemand sagt: ‚Das kannst du nicht’, dann glaube ich das erst mal. Auch wenn es vielleicht gar nicht stimmt.“

Niklas muss aufpassen, dass nichts über seinen Kopf hinweg entschieden wird. Selbst unser Interview-Termin hätte ihn beinahe um eine seine Lieblingsbeschäftigungen gebracht, weil er sich nicht getraut hat, einen anderen Termin vorzuschlagen, denn er fährt leidenschaftlich gerne Kanu – und das mit vollem Einsatz. Auch gegen seine jüngere Schwester kann er sich manchmal nur schwer durchsetzen, sieht aber großzügig darüber hinweg. „Sie ist in der Pubertät“, sagt er nonchalant – das erkläre doch alles!
Mit der Schule ist er jetzt zufrieden. Auf dem Gymnasium wird er akzeptiert und anerkannt. Dort weiß man, wo seine Stärken liegen. Er liest viel und ist immer bestens auf ein Thema vorbereitet. Im Grunde ist er ein Autodidakt. Solange es um Naturwissenschaften geht, kann ihm niemand etwas vormachen. Er behält Zahlen und Daten und kann sich genau erinnern, was an welchem Tag geschehen ist – auch, wenn es schon Jahre zurückliegt.

Aber wenn es um Lyrik geht, wird es schwierig. „Die Grammatik einer Sprache ist kein Problem. Aber freies Schreiben fällt mir schwer.“

Wenn er bis zum Nachmittag Unterricht hat, fährt er mit dem Auto zur Schule. Er hat im vergangenen Jahr den Führerschein gemacht und ist froh, dass er in seinem abgelegenen Heimatort nicht auf den Bus angewiesen ist. Seine Mutter erinnert sich, wie sie die Fragebögen zur Führerschein- Anmeldung ausgefüllt haben. „Dort gibt es ja auch die Frage, ob man geistig behindert ist. Wir haben Nein angekreuzt.“
Auch sein Fahrlehrer war überzeugt, dass es keine Probleme geben würde – und sollte damit recht behalten.

„Es hat den Anschein, dass man, um in der Wissenschaft oder der Kunst Erfolg zu haben, einen Schuss Autismus haben muss. Zum Erfolg gehört notwendigerweise die Fähigkeit, ein Thema mit Originalität zu überdenken, um in der Kreation neue, unberührte Wege zu gehen und alle Begabungen in dieses eine Spezialgebiet zu lenken.“ Hans Asperger

Im nächsten Frühjahr wird Niklas das Abitur machen. Und danach?

„Dann möchte ich gerne Chemie studieren, in Marburg oder in Würzburg. Und später in einem Labor arbeiten.“

Niklas’ Fähigkeit, im Detail zu denken und sich völlig in ein Thema einzufi nden, wird ihm im Beruf nützlich sein und ihn zu einem Experten auf einem bestimmten Spezialgebiet machen.

Was genau das sein wird, kann er sich noch nicht vorstellen. Nur, dass es mit organischer Chemie zu tun haben soll, „also mit den chemischen Verbindungen von Kohlenstoff en. In diesem Bereich geht es dann um Kunststoff e, Farbstoff e, oder Medikamente“, erklärt er.

In den vergangenen 150 Jahren hat sich dieser Zweig der Chemie bedeutend auf das menschliche Leben ausgewirkt: auf unsere Ernährung, unsere Gesundheit, unsere Kleidung. Und ohne die organische Chemie gäbe es die meisten unserer Konsumgüter überhaupt nicht.

Doch daran ist Niklas gar nicht interessiert. Ihm geht es nicht um materielle Dinge. Er macht einen beneidenswert zufriedenen Eindruck. „Er braucht nie etwas“, bestätigt seine Mutter. „Er ist wunschlos glücklich.“ Denn um glücklich zu sein, möchte er die Dinge lieber verstehen als besitzen.

Allerdings wird es ihm schwerfallen, den Alltag alleine zu bewältigen. Mit eigenen Strategien und geduldiger Unterstützung von anderen könnte es ihm vielleicht eines Tages gelingen, eine eigene Wohnung zu haben und allein zurechtzukommen – doch die kleinen Dinge kosten ihn große Anstrengung.

Niklas schweift kurz ab. Mit einer kleinen Berührung an der Schulter holt ihn seine Mutter zurück ins Gespräch. Zurück in die Welt. 

Man möchte gerne wissen, womit er sich gerade beschäftigt. Womöglich mit der Beschaff enheit des Wassers in seinem Glas, mit Clustern aus Wasserstoffb rückenbindungen und Oberfl ächenspannung. 

Vielleicht ist er gerade dabei, eine große Entdeckung zu machen. Und ich bin mir sicher, dass er in seinem Leben noch Großes leisten wird.

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