Editorial: Wie wir wohnen
Editorial
Wir alle tun es. Es ist simpel und zugleich hochkompliziert, existenziell und doch alltäglich. Wir wohnen. Auf der Suche nach Schutz vor wilden Tieren und der Unbill des Wetters ahmten unsere Vorfahren, so vermutete Walter Benjamin, die Gehäuse der Tierwelt nach. Die Menschen schufen sich Häuser.
Kinder in aller Welt tun dies bis heute. Wer liebte es nicht, sich als Kind eine Höhle zu bauen und sich darin einzurichten? Wie schade, dass diese kreativen Bauwerke aus Kartons, Decken und anderer Materialien alsbald dem Ordnungssinn der Restfamilie weichen mussten. Als hätten wir bereits geahnt, was Heidegger schließlich aufschrieb: Menschsein heißt, als Sterblicher auf der Erde sein, heißt wohnen.
Doch bleibt es seltsam mit dem Wohnen. Man wohnt nicht immer und überall. Selbst wenn man sich lange Zeit in den gleichen Räumen aufhält, würde man nicht immer von „wohnen“ sprechen. Zum Beispiel beim Aufenthalt in einem Krankenhaus. Niemand würde sagen, dass er dort wohnt. Er ist lediglich dort oder muss unglücklicherweise dort sein. Gleiches gilt für Kasernen, Gefängnisse, Heime, auch wenn wir sie Wohnheime nennen.
Wesentlich fürs Wohnen ist nämlich neben dem Bedürfnis nach Schutz und Rückzug vor allem die Kontrolle des Zugangs. Wir entscheiden, wem wir Zutritt gewähren und wem nicht. Jeder, der schon mal erleben musste, dass seine Wohnung von Dieben heimgesucht wurde, weiß, wovon die Rede ist. Auch ist die Wohnung Gestaltungsraum. Wir richten uns ein und zeigen damit, wer wir sind und wo wir hingehören. Hier sind wir weniger fremdbestimmt, hier können wir wir selbst sein.
Doch gibt es auch Schattenseiten: Die Wohnung kann auch eine Falle sein. Es gibt hier keine öffentliche Kontrolle. Kinder, Frauen, Alte und Hilflose können sich hier Gefährdungen ausgesetzt sehen, die öffentlich nicht wahrgenommen werden. Und: Wohnungen sind heutzutage auch eine Ware, die sich längst nicht mehr jeder leisten kann.
Wie immer wollen wir in diesem Heft einigen dieser Fragen ein wenig nachgehen. Wie wohnen eigentlich Menschen, die nicht mit anderen zusammenleben können? Kann ein Obdachloser eigentlich wohnen? Was haben Architekten heute über das Wohnen zu sagen und welchen Vorstellungen folgen sie bei ihren Planungen? Und vieles mehr.
Wir alle tun es – wie gesagt: simpel und alltäglich und doch hochkompliziert und existenziell. Oder um es mit dem bekannten schwedischen Möbelhaus zu sagen: Lebst du noch oder wohnst du schon? Ein gedanklicher Seitenwechsel bringt Ihnen vielleicht neue Einsichten zum Jahresende. Viel Spaß dabei.
Ihr Hanno Henkel mit dem Redaktionsteam