„Doktor, machen Sie mich wieder fit, ich muss doch weiterarbeiten!”

Manche Menschen legen ihr ganzes Gewicht in nur eine Waagschale; engagieren sich ohne Rücksicht auf (Selbst) Verluste; beruflich oder sozial.

Doch ohne Gegengewicht kippt die Sache. Dann sitzen sie im Wartezimmer. Zum Beispiel beim hausärztlich tätigen Internisten Dr. Martin Wittig aus Poppenhausen.

SW: Herr Dr. Wittig, alle Welt redet vom „Burnout”. Ist das eine neue Modekrankheit?

Das Burnout-Syndrom gibt es, kein Zweifel. Manche Leute reden vom Burnout, nur weil es bei der Arbeit mal hektisch zugeht; da wird auch Schindluder getrieben. Das Burnout- Syndrom ist nicht so häufig, wie man glaubt, aber die, die es erwischt hat, hat es heftig erwischt. Die sind schwer krank.

Was ist das aus ärztlicher Sicht?

Burnout ist ein Syndrom, d. h., es liegen verschiedene Symptome vor: emotionale und körperliche Erschöpfung, das Gefühl, anhaltend überfordert und seelisch ausgebrannt zu sein; die Unfähigkeit, sich zu entspannen, Müdigkeit, Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Kopf- und Rückenschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden. Die subjektiven Beschwerden sind zum Ende des Verlaufs so massiv, dass bei schweren Fällen Selbstmordgefahr entstehen kann.

Wer ist für eine solch massive Dauererschöpfung besonders anfällig?

Grob gesprochen gibt es drei Gruppen. Zunächst Menschen mit hohen ethischen Ansprüchen: Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Krankenschwestern, Altenpfleger. Diese stellen enorme Anforderungen an sich selbst und merken nicht, wie sie sich überfordern. Mal konkret am Beispiel der Altenpfleger: Sie gehen mit viel Idealismus ran, erleben dann, dass im Altenheim die Löhne gedrückt werden, sie ausgebeutet werden und die Angehörigen der Pflegebedürftigen ihre Arbeit nicht anerkennen. Plötzlich können sie nicht mehr. Für Krankenschwestern gilt dasselbe. Auch mancher Pfarrer sagt: „Liebe deinen Nächsten!” und vergisst: „wie dich selbst!” Solche Menschen denken an andere, nur selten an sich selbst.. 

Die zweite Gruppe sind Menschen mit hohem beruflichem Ehrgeiz: Unternehmer, Ingenieure, Manager, Sportler. Viele haben einen Betrieb aufgebaut, sind erfolgreich, werden gebraucht. Es ist schick, in der Welt herumzureisen, in Hotels zu logieren. Sie merken oft nicht, wie sehr sie sich von ihrer Familie entfremden, haben eine 80 bis 90 Stunden- Woche. Irgendwann ist das Tempo nicht mehr durchzuhalten. 

Die dritte Gruppe umfasst Menschen mit privaten Belastungen. Stellen Sie sich eine Frau vor, die geheiratet hat und plötzlich Eltern und Schwiegereltern pflegen muss. Sie hat Kinder, möchte ihr Bestes geben, ist religiös motiviert. Es geht gut, solange die Pflegebedürftigen durchschlafen. Wenn aber an sieben Tagen der Woche gestörte Nachtruhe dazu kommt und ein Heimplatz nicht finanziert werden kann, rutschen die Helfer schnell ins Burnout. Es kommen immer zwei Dinge zusammen: eine starke äußere Belastung und die Absicht, diese Anforderungen unbedingt zu meistern.

Die erste Anlaufstelle ist der Hausarzt. Wie sieht das im Praxisalltag aus?

Es ist noch keiner in meine Praxis gekommen und hat gesagt: „Ich habe ein Burnout!” Die Patienten kommen mit allem Möglichen, suchen Erklärungen im körperlichen Bereich: „Ich hab´s am Herzen, leide an Schilddrüsenüberfunktion.” Oft erzählen sie: „Ich kann nicht schlafen, lege mich abends todmüde ins Bett, bin aber sogleich hellwach, kriege Herzrasen, Schweißausbrüche und grübele über die Arbeit.” Natürlich müssen die internistischen Auffälligkeiten abgeklärt werden, all das kann ja auch körperliche Ursachen haben.

Was bringt Sie als allgemein praktizierenden Arzt auf die richtige Spur?

Man muss auf die ganz feinen Signale achten, die einer setzt. 

Das verlangt aber ganzheitlich arbeitende Ärzte ... 

Ja, aber so schlecht sind Ärzte nicht! Was sehr schwierig ist: Menschen im Burnout wirken sehr gefasst. Gerade solche, die es gewohnt sind, in derÖffentlichkeit zu agieren, treten selbstsicher auf,bauen eine Fassade auf. Das gelingt ihnen sogarvor sich selbst, bis der Zusammenbruch kommt.Dann haben Sie einen Manager in der Sprechstundesitzen, der heult, und es ist ihm fürchterlich peinlich, dass es ein anderer sieht. Es ist für solche Menschen enorm schwierig, Hilfe anzunehmen, weil sie ja die Macher sind.

Wie wird das Burnout-Syndrom behandelt?

Jemand im Burnout hat seinen Körper gezwungen, auf Hochtouren zu arbeiten und, wenn er müde wird, trotzdem weiterzuarbeiten. Er steht unter Strom, kann nachts nicht schlafen – ein grausamer Zustand. Da muss man den Schlaf mit Medikamenten erzwingen. Im Gehirn gibt es einen Nervenüberträgerstoff, das Serotonin. Bei extremer Überlastung wird dieser Stoff massiv verbraucht, und durch den Mangel reagiert das Gehirn mit Panik und Depression. Diesen Serotoninspiegel kann man mit Psychopharmaka, den Antidepressiva, anheben. Damit bringe ich das Gehirn wieder dazu, abschalten zu können, und ein abgeschaltetes Gehirn kann dann auch schlafen. Schlafmittel allein sind ungeeignet, weil die Unterversorgung mit Serotonin ja weiterbesteht.

Was empfindet der Patient, der das einnimmt?

Ein solches Medikament nimmt Angst und Depressionen. Viele fürchten, dass Antidepressiva ihre Psyche verändern. Es ist aber umgekehrt: Durch das Medikament wird ihre Psyche wieder in den Normbereich zurückgeführt. Vorher war sie aus dem Takt. Wenn ich aber nur Antidepressiva gebe, bringt das wenig. Ich versetze mit Medikamenten den Patienten in ein Stadium, in dem er nachdenken kann. Parallel muss unbedingt eine Psycho- bzw. Verhaltenstherapie laufen. Wenn Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, grübelt der Patient nicht mehr so viel, und wenn er nicht mehr grübelt, verbraucht er nicht mehr so viel Serotonin. Beim Burnout arbeitet man optimalerweise zweigleisig.

Wie lang dauert eine solche Behandlung?

So lange, wie man braucht, um in ein Burnout reinzukommen, braucht man auch, um wieder herauszukommen.
Der erste Schritt ist zuzugeben, dass man Hilfe von außen braucht. Der zweite: Der Patient muss lernen, körperliche Anzeichen als ein Warnsignal zu deuten und nicht zu sagen: „Ich habe Kopfschmerzen, das muss behandelt werden!” Drittens muss man ihm klarmachen, dass ihn andere auch mögen, wenn er nicht arbeitet, dass er als Mensch gemocht wird, nicht als Funktionsträger.

Die Therapie eröffnet Perspektiven, aus krankmachenden Verhaltensweisen herauszukommen, aber es dauert. Man wird in der Regel für zwischen drei Monaten und einem Jahr krankgeschrieben. Oft fragen die Kassen skeptisch: „Läuft die Therapie optimal? Macht der Patient auch alles?” Das empfindet er als belastenden Druck. Er weiß, dass er krank ist, aber er fühlt sich als Hypochonder dargestellt. Das kann ihn Monate zurückwerfen.

Kann man sich ganz davon erholen?

Kann man. Es setzt allerdings Krankheitseinsicht voraus und die Bereitschaft, etwas ändern zu wollen! Wenn jemand kommt und sagt: „Doktor, mach mich wieder fit, ich muss doch weiterarbeiten!”, droht auf lange Sicht Berufsunfähigkeit. Es darf nie so weitergehen wie vorher. Manche müssen erst auf die Nase fallen. Manch ein Raucher hört auch erst nach dem Herzinfarkt mit dem Rauchen auf. 

Betroffene versuchen oft, das Syndrom nach außen hin zu verbergen.

Ja, es denkt jemand z. B.: „Der Nachbar ist es gewohnt, dass ich immer arbeite, und jetzt sitze ich auf der Terrasse! Der denkt, ich bin faul.“ Was erschwerend hinzukommt, ist, dass die Leute nach außen hin gesund aussehen. Sieht man jemanden mit Kreuzbandriss humpeln, denken andere: „Der hat sich beim Fußball engagiert”. Also wird er bedauert. Einer mit Burnout schämt sich, weil er die Aufgabe, die er sich gestellt hat, nicht geschafft hat. Das ist blamabel für ihn.

Aber es ist doch kein schuldhaftes Scheitern ...

Jemand, der ein Burnout hat, stellt sich schon die Frage: „Was habe ich falsch gemacht, bin ich schuldig?” Aber wenn ich ohne böse Absicht eine Handlung begehe, die schiefgeht, kann man eigentlich nicht von Schuld reden.

Raten Sie Ihren Patienten, offen damit umzugehen?

Sie brauchen jemanden, dem sie absolut vertrauen. Normalerweise hat man ein gutes Bauchgefühl dafür, wer neugierig ist und wer wirklich helfen will. Denen, die Sensationen haben wollen, sollte man sagen: „Mir geht es nicht gut, aber ich möchte nicht darüber reden.“ Wenn die dann weiterbohren, sind sie unhöflich. In der Regel muss man es dem Arbeitgeber sagen, weil die Arbeitsplatzbedingungen meist mit schuld sind. Oft haben Patienten Angst, ihren Arbeitsplatz und damit ihre Anerkennung zu verlieren. Aber was wie eine Katastrophe aussieht, kann den Anfang zum glücklicheren Leben bedeuten: Lieber eine schlechter bezahlte Arbeit, mit der ich alt werden kann, als gut dotiert mit 45 umzukippen.

Die Risiken: Einfühlsamkeit, Idealismus, das sind doch positive Bestimmungen ...

Ja, aber es geht um die Dosierung. Im Grunde genommen hat jemand, der im Burnout gelandet ist, vollends die Balance verloren.

Warum sind Menschen heute besonders stark bedroht?

Das Burnout-Syndrom hat es früher auch gegeben. Es ist oft nicht erkannt worden und konnte in Alkoholismus oder Selbstmord enden. Heute spielen auch veränderte Rahmenbedingungen eine Rolle: Vor dreißig Jahren hatte man kein Handy, war nach Feierabend nicht erreichbar. Am Wochenende war Ruhe. Heute können Sie bis 22 Uhr einkaufen, am Wochenende ist überall Betrieb, und Sie sind permanent online. Arbeit und Freizeit sind nicht mehr klar getrennt. Viele Chefs verlangen, dass ihre Mitarbeiter am Wochenende erreichbar sind. Das zerstört den Erholungseffekt. Jeder braucht eine Zeit, in der er offline ist. Früher ist vieles nicht so wirtschaftlich gelaufen, aber es war menschlicher.

Die Prävention von Burnout ist eine Angelegenheit, die in die Managerschulung gehört, in die Personalführung. Wir müssen nachhaltig arbeiten. Was wir mit der Natur machen, nämlich ausbeuten, machen wir auch mit den Menschen. Solange kein Umdenken einsetzt, kommen wir nicht weiter.

Ist jemand, der das Burnout überwunden hat, auch insgesamt im Leben weitergekommen?

Ja, man arbeitet vielleicht auf niedrigerem Niveau weiter, verdient weniger, lebt aber glücklicher. Aber es ist ein verdammt harter Weg. Ich erlebe auch immer wieder: Es gibt 90-Jährige, die immer gesund waren und plötzlich feststellen, sie könnten irgendwann sterben. Die sind verzweifelt. Umgekehrt weiß jemand, der krank ist, die Gesundheit zu schätzen, geht mit seinen Ressourcen besser um und hat unter Umständen ein bewussteres, erfüllteres Leben. Ich würde nicht sagen, dass die Kranken immer die Unglücklicheren sind. Die gehen manchmal sogar weiser durchs Leben.

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