„Die Wurst muss schmecken“

60.876 Zuschauer in 89 Shows – das entspricht einer Auslastung von 99,9 Prozent.

Dennis Martin und Peter Scholz

Dennis Martin und Peter Scholz

 

 

Die Bilanz des Musicalsommers 2017 ist atemberaubend. Fulda steht im Rampenlicht, die Hoteliers strahlen um die Wette. Dennis Martin und Peter Scholz treffen mit ihren Produktionen immer wieder den Nerv des Publikums. Doch vom kolossalen Erfolg lassen sie sich nicht blenden. Humorvoll, selbstironisch und mit reichlich Bodenhaftung präsentierten sie sich beim Gespräch mit dem SeitenWechsel.

SeitenWechsel (SW): Um den Musicalboom in Fulda zu verstehen, würden wir gerne zum Anfang zurück. Hattet ihr wirklich zeitgleich, aber unabhängig voneinander die Idee zu einem Musical über Bonifatius? Oder ist das ein Mythos?

Peter Scholz (PS): „Mythos und Tragödie“, das war doch ursprünglich der Untertitel zu Bonifatius (lacht). Es ist beides wahr!

Dennis Martin (DM): Wir kannten uns bereits, waren beide Profimusiker. Damals gab es bei Holodeck Musicalaufführungen mit Laien, die hat Peter als Vocalcoach begleitet und ich habe die Playbacks produziert. Das war unser erster Berührungspunkt. Zum Bonifatiusjubiläum 2004 kam beiden die Idee, den Stoff als Musical umzusetzen.

PS: Die Arbeit an existierenden Musicals ist immer unglaublich aufwendig. Da macht man fünf Aufführungen – und die ganze Arbeit geht von vorne los. Was für eine Verschwendung! Daher dachte ich, wenn man schon tausende Stunden investiert, dann lieber noch hundert Stunden dranhängen und gleich ein eigenes, neues Stück erschaffen – im naiven Glauben, mit hundert Stunden sei es getan. Trotzdem: Der Aufwand mit Casting, Bühnenbild, Kostümen ist derselbe. Das war der Kerngedanke. Und anstatt sich etwas Verrücktes aus den Fingern zu ziehen – Thema Star Wars oder ähnliches – wollte ich etwas machen, das mit der Region zu tun hat, womit sich die Menschen identifizieren können. Ähnlich dachte Dennis. Wir sind unabhängig voneinander darauf gekommen. Bei mir waren es ein paar Melodien im Kopf, aber er hatte schon handfest daran gearbeitet. Als er mich ansprach, war das schon skurril.

DM: Ich hatte meine Idee Zeno Diegelmann erzählt, der mich gleich bestärkt hatte. So begann ich, zwei, drei Lieder zu schreiben, ohne dass wir einen Plot hatten. So würden wir heute natürlich nicht mehr herangehen. Ich hätte mir ein eigenes Musical auch gar nicht zugetraut, da war Zeno die treibende Kraft. Wir sind wirklich blauäugig an die Sache herangegangen. Aber das war wohl gut so.

SW: Zwei lose Songs waren der Startschuss?

DM: Richtig. Die waren aber schon recht aufwendig produziert. Der erste Song war Gib mir Kraft, eine Art Innenansicht, ein Gebet.

PS: Was dann auf uns zukam, war Wahnsinn. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet. Damals habe ich ein Jahr auf der Matratze auf dem Fußboden geschlafen, aber das war egal. Wir wollten das einfach.

DM: Wir hatten uns nicht vorgenommen: Jetzt werden wir Musicalproduzenten! Wir wollten einfach eine gute Show abliefern.

SW: Und ihr habt von Anfang an den Fokus aufs Marketing gelegt.

DM: Wir haben gleich Gas gegeben, was Werbung und Plakatierung angeht.

PS: Es ging schon damit los, dass man sich über ein Logo Gedanken machte und vorab mal ein Lied präsentierte. Das fand im vergleichbaren Kulturbetrieb nicht statt.

 

Monumentale Show: Die Schatzinsel

Monumentale Show: Die Schatzinsel

 

 

DM: Dazu kam der Präsentationsvertrag mit der „Fuldaer Zeitung“. Es gab riesige Anzeigen. Und wir hatten mit Michael Weiß und der TSG Künzell bereits ein Netzwerk, welches im Amateurbereich Erfahrung mit aufwendigen Musicalshows hatte.

PS: Von Anfang an war aber auch die Überzeugung da, sich nicht ausschließlich auf die heimischen Erfahrungen – auf die „Fulda-Kolchose“, nenne ich es mal – beschränken zu dürfen. Es musste Inspiration her! Wir wollten gleich im Erstschlag sozusagen ein Niveau zeigen, auf das wir in Fulda nicht zurückgreifen konnten. Wir hatten Kontakte zum Intendanten der Hersfelder Festspiele, der uns ein Kreativteam vermittelt hat mit Regisseur, Bühnenbildner usw.

DM: Die ganze Expertise kam von außen.

PS: Er hatte uns auch den Hauptdarsteller Reinhard Brussmann empfohlen. Ich sollte ihn anrufen, hatte aber keine Telefonnummer und eine Homepage gab es damals nicht. Da habe ich ganz naiv zum Hörer gegriffen und mich vermitteln lassen. Über die Auskunft! Irgendwie hat alles trotzdem geklappt. Wir wollten einfach, dass das Ding geil wird. Wir hatten beide eine große Schmerzbereitschaft. An die Zukunft haben wir nicht gedacht.

SW: Wie konnte so ein Projekt ausgerechnet in Fulda einschlagen?

PS: Fulda als Barockstadt und Kulisse ist einmalig. Die Menschen reisen busweise an und wollen über Nacht bleiben. Außerdem konnten wir hier ein Netzwerk aufbauen, das stabil ist und auf das wir uns verlassen können – im Gegensatz zu anderen Spielstätten, wo wir auch schon mal hängengelassen wurden. Die Verbindung zur Region ist ein klarer struktureller Vorteil. Wir haben erst später gesehen, wie originär Fulda als Standort ist.

SW: Wusstet ihr, das Fulda nicht nur Musicalstadt, sondern auch die inklusivste Stadt Deutschlands ist?

DM: Stadt inklusive Musical! Super!

SW: Könnt ihr euch vorstellen, ein Musical mit einem Menschen mit Behinderung zu besetzen?

PS: Wir haben das oft überlegt. Aber es ist ein knallharter Job. Selbst als Platzanweiser musst du unglaublich aufpassen und dich mit uneinsichtigen Menschen anlegen. Einmal kam es fast zu Handgreiflichkeiten, als ein Mann den Saal verlassen hatte und ihn wieder betreten wollte, ohne auf die Pause zu warten.

 

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne: Dennis Martin und Peter Scholz wagen „Bonifatius“ (2004)

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne: Dennis Martin und Peter Scholz wagen „Bonifatius“ (2004)

 

 

SW: Und als Schauspieler?

DM: Wenn es zur Story passen würde – klar, warum nicht? Aber die Zuschauer haben eine Erwartungshaltung, und die müssen wir erfüllen.

PS: Ich sollte einmal eine Empfehlung geben für ein großes Laien-Passionsspiel aus der Region, das einen Jesus-Darsteller suchte. Ich schlug einen brillanten Schauspieler vor. Der hatte alles: tolle Stimme, Präsenz, Talent – und ein Holzbein. Deshalb wurde er abgelehnt. Das fand ich schade, wenngleich man das künstlerisch nachvollziehen kann.

SW: Jesus darf also kein Holzbein haben? Das ist ja fast eine theologische Frage. Worin besteht denn die besondere Herausforderung für Laien beim Bühnenschauspiel?

PS: Schauspiel ist dadurch definiert, dass du eine andere Rolle implizierst. Das funktioniert selbst mit Profis oft nur mit harter Arbeit. Obendrein ist es ein gefährlicher Arbeitsplatz, in dem schon einige Menschen schwer verletzt wurden. Hinter der Bühne ist es dunkel, es sind Maschinen im Einsatz. Daher brauchen wir auch für alle Kinder extra Betreuungspersonal. Auch die Arbeitszeiten sind knallhart.

DM: Aber mal drüber nachzudenken, was bei der Integration von Menschen mit Behinderung im Produktionsablauf möglich ist und wie wir uns da öffnen können, wäre schon spannend.

SW: Insgesamt klingt es nach einem harten Business.

DM: Das Business ist gnadenlos, das hat auch bei uns Spuren hinterlassen. Wir haben viele Grabenkämpfe gefochten und wurden anfangs ziemlich vorgeführt, als wir mit den Theaterregeln noch nicht vertraut waren. Es gibt auf der Bühne auch viel Aberglaube. Ich habe mal den Fehler gemacht und bin mit Mütze über die Bühne gelaufen. Was gab das für eine Aufregung.

PS: Wir hatten von so vielem keine Ahnung und haben anfangs wirklich alles selbst gemacht. Sogar die Toiletten nach der Aufführung geputzt! Das hat mitunter unsere Autorität als Chefs ziemlich untergraben (lacht).

SW: Habt ihr noch Freude am Job?

DM: Natürlich. Dem Anfang eines Projektes wohnt immer ein Zauber inne. Das ist auch heute noch so.

PS: Die Leute haben uns anfangs für verrückt erklärt, weil wir alles selbst gemacht haben. Es hatte für uns fast etwas mit Religion zu tun: Du musst daran glauben. Und du musst das lieben.

SW: Bleibt die Kunst inzwischen auf der Strecke? Ihr müsst so viele organisatorische Dinge im Blick behalten – wie passt das mit dem Künstlerdasein zusammen?

DM: Ich ziehe mich zum Komponieren zurück, da brauche ich Ruhe. Zurzeit recherchiere ich für das nächste Musical, dafür muss ich mehrere tausend Seiten lesen. Letztendlich bin ich für beides verantwortlich, für Text und Musik. Aber ich habe nicht den künstlerischen Anspruch, mich jedes Mal völlig neu zu erfinden. Wir sind ein Unternehmen und erfüllen die Erwartung des Publikums. Die war anfangs nicht hoch, weil niemand erwartete, dass Fulda in dieser Richtung etwas Gutes bieten kann. Aber inzwischen wissen die Menschen, dass wir gut sind, und erwarten, dass jede Show genauso gut oder sogar noch besser wird.

SW: Je mehr Erfolg, desto mehr Druck?

PS: Wir müssen am Markt bestehen, denn wir werden nicht mit Millionenbeträgen subventioniert wie andere. Da fühlen wir uns auch gut mit. Das nehme ich nicht als Druck wahr. Jeder Metzger muss es genauso machen: Die Wurst muss schmecken, sonst kann er seinen Laden zumachen.

SW: Verfolgt ihr mit der Auswahl der Themen eine bestimmte Botschaft?

PS: Anfangs bekamen wir oft zu hören: „Ihr mit euren heiligen Musicals!“ Aber wir haben keinen klerikalen Anspruch.

DM: Bonifatius haben wir wegen des lokalen Bezugs gewählt und wir haben ihn ja sogar ziemlich kontrovers und nicht verklärt dargestellt. Trotzdem haben wir keine übergeordnete Botschaft. Wir bieten einfach eine gute Show.

SW: Könntet ihr euch vorstellen, ein modernes Thema aufzugreifen?

DM: Derzeit kann ich mir nicht vorstellen, ein Stück zu schreiben, das in der Gegenwart spielt. Wir haben immer historische Themen gewählt, weil es uns liegt und Spaß macht.

SW: Was macht ein mitreißendes Musical aus?

DM: Die Fallhöhe des Protagonisten ist entscheidend (lacht)! Wenn er keine hat, ist es nicht spannend.

SW: Was plant ihr als Nächstes?

PS: Für das nächste Musicalprojekt wollen wir uns mehr Zeit lassen. Wir haben aber auch viele andere Dinge in Arbeit. Zum Beispiel unsere Actors Academy, wo wir talentierten Kindern aus der Region kostenlosen Schauspielunterricht anbieten. Im Vergleich zu Amerika kommt diese Art Talentförderung in Deutschland viel zu kurz. Wir wollen Rollen professionell besetzen, auch bis in die dritte Reihe hinein. Daher rekrutieren wir junge Talente in Fulda und fördern sie. Das ist echte Pionierarbeit.

SW: Wisst ihr überhaupt, dass das Thema dieses Heftes „Pioniere“ ist und wir euch deshalb eingeladen haben?

PS: Das war uns nicht bewusst, aber es passt. Wir sind stolz, Fulda als Kulturstadt mitzugestalten. Vor unserem Engagement war ein kultureller Schwerpunkt aus unserer Sicht neben der Architektur vor allem Kirchenkultur. Wir haben den Focus auf die Theaterbühne gerückt, wobei unser Anspruch nicht ist, Fulda zu einem Theater-Mekka zu machen. Das ist unrealistisch und würde auch nicht zur Region passen. Städte wie Würzburg, Kassel, Gießen oder Meiningen haben für das Theater mehr als zehnmal so viel Budget wie Fulda. Wenn wir in jeder Saison 50.000 bis 80.000 Besucher zufriedenstellen, ist das völlig ok.

 

Das Gespräch führten Arnulf Müller, Hanno Henkel, Andreas Sauer und Anna-Pia Kerber

Das Gespräch führten Arnulf Müller, Hanno Henkel, Andreas Sauer und Anna-Pia Kerber

 

 

SW: In der Summe kann man also sagen: Am Ende steht der Erfolg!

PS: Ich nehme das gar nicht so sehr als Erfolg wahr. Ich gehe einfach zur Arbeit und mache meinen Job. Erfolg ist für mich, wenn du zwei Wochen im Jahr am Strand liegen darfst, ohne dass das Telefon klingelt. Das war seit zehn Jahren nicht der Fall und es sieht auf absehbare Zeit auch nicht danach aus.

DM: Wir sind zuallererst dankbar, einen spannenden Job machen zu dürfen. Ich war damals professioneller Musiker, konnte aber nicht ausschließlich davon leben. Daher musste ich zusätzlich Klavierunterricht geben. Ich glaube nicht, dass ich damit ein Leben lang glücklich geworden wäre. Es hätte auch alles ganz anders laufen können. Aber unser Job jetzt ist so spannend und abwechslungsreich, dass wir einfach dankbar sind.

SW: Hat der Erfolg Euch verändert?

DM: Schneller Erfolg verändert die Menschen, das habe ich oft genug erlebt. Aber bei uns hat es ja eine Weile gedauert (lacht). Außerdem haben wir uns und unsere Arbeit immer realistisch eingeschätzt.

PS: Wir sind nicht abgehoben. Wir haben keine Entourage, die uns alles nachträgt. Wir haben nicht einmal eine Sekretärin. Ich weiß nicht, wie lange wir das so noch durchhalten. Wir müssen immer genau schauen, was wir uns und unserem Team zumuten.

SW: Wie bewältigt man Dauerstress?

DM: Indem man nicht den Blick fürs Wesentliche verliert. Einmal haben wir in Tschechien ein Stück produziert. Ich hatte Angst, dass wir nicht fertig werden. Da sagte ein tschechischer Kollege: „Weißt du, Dennis, Theater ist nicht das Wichtigste im Leben. Wichtig ist, dass es allen gutgeht. Lass uns was trinken gehen.“ Das hat mich entspannt. Daran denke ich, wenn der Druck zu groß wird.

protokolliert von Anna-Pia Kerber

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