Die große Suche
oder: Warum wir lieber ein Mantra beten als den Rosenkranz, von Anna-Pia Kerber
Gewiss ist Ihnen schon aufgefallen, wie viele Menschen aus Ihrer Umgebung Sie zurzeit leidenschaftlich von etwas zu überzeugen versuchen. Von einem Thema, das sie ganz neu für sich entdeckt haben – und dass Ihnen bestimmt ganz genauso gut tun wird. Bei diesen Personen kann es sich um den Nachbarn, die Kollegin oder den Busfahrer handeln. Sie alle haben etwas gefunden und wollen Sie nun bekehren. Im besten Fall tun sie es mit Feuereifer, im schlimmsten Fall mit einer dogmatischen Bestimmtheit, der man sich kaum erwehren kann. Dabei kann es sich um Veganismus, Buddhismus, Yogaübungen oder Heilfasten handeln. Je exotischer, desto besser.
Panchakarma – Reinigung für Körper und Seele – wurde mir neulich von einer Freundin angepriesen. Sie hatte gerade eine zweiwöchige Panchakarma-Kur hinter sich und versuchte, mir deren Vorteile schmackhaft zu machen.
Panchakarma ist eine Detoxbehandlung des Ayurveda. Klingt Spanisch für Sie? Tatsächlich stammt Panchakarma aus Indien und beschreibt eine ganzheitliche Reinigungs- und Entgiftungszeremonie. Meine Freundin erzählte in leuchtenden Farben vom Ghee – einem Wunderallheilmittel, das bei Panchakarma zum Einsatz kommt. Das Ghee wird geschluckt, auf die Haut aufgetragen, eingerieben, getrunken. Es soll dem Körper helfen, sich von angesammelten Toxinen zu reinigen und – laut Beschreibung – „die kleinen Sünden der Vergangenheit wieder loszuwerden“. Klang interessant. Was man früher im Beichtstuhl abarbeiten konnte, erledigt heute das Ghee? Ich sah mir meine Freundin genauer an. War sie seit der Kur von einem hellen Schein umgeben?
Ich begann zu zweifeln. Obwohl ohnehin von schlanker Statur, hatte sie während der Kur zusätzlich drei Kilo abgenommen. Ihrem Haar fehlte der übliche Glanz, für den ich sie sonst beneidete. Überhaupt war da heute wenig Schimmer um sie – außer dem etwas irren Schimmer in ihren Augen, wenn sie über das Ghee sprach.Jetzt wollte ich es genau wissen. Ich ließ mir das Wundermittel zeigen, dass sie in größeren Mengen beim Veranstalter eingekauft hatte. Spirituelle Reinigung kann man demnach auch heute noch erkaufen. Mit dem Unterschied, dass sie nicht in Ablassbriefen, sondern in einem kleinen Töpfchen daherkommt.
Die Hände beschäftigen, damit der Geist sich leert und das Herz sich öffnet: die buddhistische Gebetskette Mala
Ich nahm das Töpfchen unter die Lupe. Das unglaubliche, das sagenumwobene, das allheilende Ghee – war nichts anderes als gereinigte, gesäuerte Butter. Irgendwie war ich froh, dass sie dafür nicht nach Indien gereist war.
Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Die neuen Methoden, die uns angetragen werden, kommen von weit her: ganzheitliche Heilung vom Ende der Welt! Gebete aus Indien, Sojabohnen aus China, Chiasamen aus Mexiko. Und je bunter die Verpackung, desto größer die Bereitschaft zum Glauben. So gesund seien diese Chiasamen, und schon wieder wurde ich mit dogmatischer Überredungskunst gedrängt, doch auch davon zu essen. Moment mal, dachte ich. Was soll an dieser Sojabohne besser sein als an unserer heimischen grünen oder dicken Bohne? Denken die Weltverbesserer daran, dass der CO2-Abdruck der Chiasamen tausendmal größer ist als der unserer gutbürgerlichen Saubohne?
Und wieso fällt eigentlich niemandem auf, dass es hier um etwas ganz anderes geht: Nämlich nicht um die Frage, welche Ernährungsweise gesünder ist – sondern darum, wie groß die neuzeitliche Verzweiflung sein muss, um all dem Glauben zu schenken. Denn die innere Leere hat sich bloß verschoben. Kaum haben wir uns des strengen Glaubenskorsetts entledigt, stehen wir ziemlich nackt und verloren auf weiter Flur. Wir werden nicht mehr gezwungen, sonntags in die Kirche zu gehen. Dafür kaufen wir uns zahlreiche Ratgeber und Do-it-yourself-Anleitungen zum Basteln eines buddhistischen Minitempels.
Die Hände beschäftigen, damit der Geist sich leert und das Herz sich öffnet: der christliche Rosenkranz
Wir suchen – und wir finden etwas. Meditation boomt, Mantras werden endlos und leidenschaftlich gemurmelt, denn Wiederholungen beruhigen den Geist. Wir finden in diesen Wiederholungen einen ganz neuen, fundamentalen Frieden und feiern die Riten des Morgenlands. Moment mal. Haben wir uns nicht noch gestern über die Eintönigkeit des Rosenkranzbetens lustig gemacht? Stattdessen tragen heute stolze Anhänger des Spiritual Awakenings Malaketten um den Hals. Ein „wunderbares Tool zum Meditieren“. Dabei wird eine Perle zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten. Beim Meditieren kann man sich auf das Gefühl und die Beschaffenheit der Perle konzentrieren – oder pro Perle ein Mantra rezitieren, bis man die Kette im Uhrzeigersinn heruntergebetet hat. Kommt uns bekannt vor? Schon. Klingt aber viel schicker, so ein Meditations-Tool.
Und überhaupt, heute geht es doch vielmehr darum, Seele und Körper in Einklang zu bringen.
ben über die Ernährung. Weißmehl? Teufelszeug! Industriezucker? Todesurteil! Kuhmilch? Überholt. Obwohl, laut neuester Studie …?
Nur bei einem scheinen sich alle einig zu sein: der richtigen Atmung. Wer richtig atmet, dem ist der Weg zur Weisheit fast sicher. Daraus hat sich sogar eine Körperpsychotherapie entwickelt, die auf den Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich zurückgeht. In den Gruppen, die sich auf Reich berufen, macht man sich das Atmen zunutze und bietet Heilung und persönliches Wachstum. Das Prinzip: Mit dem richtigen Atem kann man Blockaden im Körper lösen, um die Energie wieder fließen zu lassen. Uralte Verletzungen und „Panzerungen“ aus der Kindheit könnten so bearbeitet werden. Die Teilnehmer berichten nach ihren Sessions von bewusstseinsverändernden Zuständen durch heftiges Atmen und davon, dass sich dadurch alte Muster auflösen würden.
Sich aus sich selbst herausheben und erkennen durch den Atem – das gibt es schon seit hunderten Jahren in vielen spirituellen Gemeinschaften. Bei den Sufis im Islam, den indischen Yogis oder den Anhängern der Voodoo-Religion vermittelt das gemeinschaftliche rhythmische Atmen spirituelle Erfahrung und Gemeinschaft.
In Europa dagegen scheint so etwas wie eine große Ratlosigkeit zu herrschen. Spirituelle Ratgeber zählen zu den beliebtesten Büchern, gleichauf mit Yoga und Ratgebern über Ernährung. Work-Life-Balance ist in aller Munde und das Redebedürfnis groß: Noch nie gab es so viele psychisch Erkrankte. Burnout, Depression, Leere – eine einzige große Haltlosigkeit. Woher soll Hilfe kommen? Ehemals überzeugte Fleischesser sprechen mit frommem Feuereifer über vegane Gerichte, gestern noch selbsternannte Atheisten beten Malaketten rauf und runter.Was ist geschehen? Den Menschen scheint es an etwas zu fehlen. Vielleicht liegt es daran, dass das Individuum heute ziemlich alleine dasteht. Jeder ist selbst für sein Glück zuständig und oftmals fehlt der Halt der Familie. Wo man früher womöglich mehr in Gemeinde und Nachbarschaft eingebunden war, kämpft man heute allein. Und wo früher einst das verbindliche Wort galt, gibt es heute kaum noch Zusagen – alles bleibt vage und unverbindlich. Dank WhatsApp kann man Verabredungen im letzten Moment absagen, dank E-Mail braucht man sich nicht mehr persönlich zu treffen. Viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Politiker erscheinen unglaubwürdig, Versprechungen bleiben leer.Es ist kaum verwunderlich, dass sich die Menschen auf die Suche machen. Dass sie nach etwas Neuem, etwas Lebendigem suchen. Im Grunde sehnen wir uns noch immer nach Ritualen. Wir fühlen uns noch immer angesprochen von Gebeten, Weihrauch und Orgelmusik. Doch unsere Kirchen erreichen die Menschen nicht mehr in ihrer Lebenswirklichkeit. Dabei könnte man den Glauben ebenso bunt und lebensbejahend feiern, wie es zum Beispiel in Brasilien Brauch ist: mit lautem Singen, Tanzen und Applaudieren in der Kirche.
Stattdessen sehen wir hier nur noch starre Regeln – und greifen lieber zu Malakette statt zum Rosenkranz. Vielleicht haben wir trotz der großen Suche vergessen, dass sie am Ende immer nach innen führt. Das liegt zwar auf der Hand, aber es könnte sein, dass unsere Jagd nach besonderen Gefühlen, exotischen Praktiken und tiefen Stimmungen gar nicht das Entscheidende trifft. Am Ende ist gar nicht so sehr der eingeschlagene Weg entscheidend, sondern die Frage, ob wir uns vorab mit uns selbst versöhnt haben. Wenn das gelingt, werden wir auch ankommen.
Je exotischer, desto besser:
Unsere Suche führt uns immer mehr zu östlichen Religionen.