Die Akte des Erwin Fischer

Das kurze Leben des Erwin Fischer

Das letzte Foto des kleinen Erwin (rechts)

Das letzte Foto des kleinen Erwin (rechts)

 

 

Das Foto entstand am 21. Juli 1937, kurz vor neun Uhr morgens. Mehrere Kinder verlassen gerade das Gebäude des Antoniusheims. Einige der Mädchen lächeln verhalten. Ihre Haare sind fein säuberlich mit Spangen zusammengesteckt, die Kleidchen vermitteln das Gefühl eines Sommerausflugs. Jedes Kind hat ein Namensschild umhängen. Was hat man ihnen erzählt? Dass sie eine tolle Reise machen? In ein Haus kommen, wo alles viel schöner ist?

Die Gesichter der Schwestern erzählen von dem, was sie den Kindern verschweigen mussten. Bitterernst drückt die linke einen Säugling an sich, um ihm zum Abschied etwas menschliche Wärme mitzugeben. Die rechte blickt ins Leere. Unter ihren Augen kann man Streifen von abgewischten Tränen erkennen. Am selben Abend wird die Oberin Adolfine Fabra in dunkler Vorahnung in der Hauschronik den Vergleich mit dem Kindesmord von Bethlehem ziehen.

Welcher Zukunft viele dieser 43 Kinder entgegenfuhren, zeigt die Krankenakte des kleinen Erwin Fischer. Es ist der Junge, den die rechte Schwester im Arm hält. Er stammt aus Wehrda, Kreis Hünfeld. Zu diesem Zeitpunkt ist er 16 Monate alt. Seine Mutter starb kurz nach der Geburt. Weil mit sechs Monaten „das Fehlen des geistigen und des Gemütslebens“ auffiel, kam er ins Antoniusheim.

Die Verlegung in staatliche Heime, die an diesem Julimorgen stattfindet, ist eine Zwangsmaßnahme des Oberlandespräsidenten in Kassel. Kostengründe werden geltend gemacht, doch es geht auch darum, die kirchlichen Träger zurückzudrängen. Mit der Verlegung sollen zudem gewachsene Bindungen aufgebrochen werden. Das würde es für das NS-Regime leichter machen, in Zukunft über diese Menschen verfügen zu können. Zwar gelingt es den mutigen Schwestern später, viele Kinder zurückzuholen, doch für etwa die Hälfte wird es kein Zurück mehr geben.

Erwin Fischer kommt zunächst nach Hephata (Schwalmstadt-Treysa). Sein Schädel wird vermessen, körperliche und geistige Defekte werden bei der Aufnahme detailliert beschrieben. Der kühle Blick der Mediziner haftet auf dem, was nicht stimmt mit dem Kind: „Steiler schmaler Gaumen“, es „wirft den Kopf nach hinten, verdreht die Augen, spricht nicht, kann nicht stehen.“ Hinweise auf eingeleitete Behandlungen, ärztliche Empfehlungen oder die Beschreibung von positiven Merkmalen finden sich nicht. So dienen alle Einträge in der Akte allein der Illustration dessen, was die Diagnose bereits festhält: „Schwachsinn (Idiotie) und Epilepsie“.

Nur der letzte Eintrag in Hephata unterbricht die Negativkaskade, gerade an dem Tag, an dem Erwin Fischer in eine andere Einrichtung weiter verfrachtet wird: „31.8.1938: Hat sich in den letzten Monaten endlich entwickelt. Kann sich selbstständig aufsetzen, kann auch mit Unterstützung stehen. Zeigt Gemütsregung und Interesse. Nur sehr selten Anfälle.“

 

Personal-Akten

Personal-Akten

 

 

Die Tatsache, dass die Akte mit einem positiven Ausblick an die Folgeeinrichtung weitergegeben wird, kann man als Versuch lesen, den Ärzten und Pflegern, die mit diesem Kind zu tun haben werden, zuzurufen: „Das Kind macht Fortschritte, kümmert Euch!“ Doch die Art, wie die Akte in der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern bei Nassau weitergeführt wird, lässt erahnen, dass Heilen, Erziehen und Pflegen nicht die wirklichen Ziele dieser Einrichtung sind. Zunächst werden die in Hephata handschriftlich verfassten Befunde mit der Schreibmaschine zusammengefasst. Der ermutigende Passus fällt dabei unter den Tisch. Fein säuberlich wird weiter nur der Verfall aufgezeichnet, und dies über weitere viereinhalb Jahre, in denen das Kind an diesem Ort mehr oder weniger vor sich hin vegetiert. Einmal hat es hohes Fieber und kommt auf die Krankenstation. Ein andermal hat es eine „handtellergroße Schwellung“ am Oberschenkel und bekommt nach Öffnung der Stelle einen sterilen Verband. Die Medizin verrichtet ihren Dienst, aber ohne jede Liebe, betreibt Vernichtung unter der Maske der Fürsorge. Besonders die Beschreibung der psychischen Verfassung des Kindes offenbart, dass die Symptome wie große innere Unruhe, häufiges Schreien, das Wiegen mit dem Kopf usw. eher die Folgen von starker Vernachlässigung und den damals üblichen Zwangsmaßnahmen sind, als dass sie von der Behinderung als solcher herrühren.

So geht die Spirale weiter abwärts. Im November 1941 wird vermerkt: „In letzter Zeit sehr schwach und hinfällig“, im Mai 1942: „F. leidet dauernd unter Ekzemen, Furunkeln und Abszessen, kratzt sich dauernd wund [...]. Geistig unveränderter Tiefstand. Aussichtsloser Pflegefall.“ Die beiden Einträge wirken, als wären sie am selben Tag vorgenommen worden: Die Schreibmaschinenschrift ist gleich blass, und das große G weist die gleiche Unvollständigkeit auf.

 

 

Am 19. Februar 1943 - der kleine Erwin ist inzwischen sechseinhalb Jahre alt - wird die Verlegung in die Landesheilanstalt Hadamar angeordnet. Dort erfolgt bereits am 02. März 1943 der letzte Akteneintrag: „Dauernd zu Bett. Gehäufte Anfälle. Heute Exitus an status epilepticus“. Unterzeichnet ist der Eintrag mit einem unscheinbaren H. H wie Huber, Oberschwester Irmgard Huber.

Im Frankfurter Euthanasie-Prozess von 1947 konnte man Irmgard Huber die Anstiftung zum Mord in 120 Fällen sowie die entsprechenden Fälschungen von Patientenakten nachweisen. Die tatsächliche Anzahl schien um ein Vielfaches höher gewesen zu sein. In ihrer Funktion als Oberschwester entschied sie gemeinsam mit dem Arzt Adolf Wahlmann in einer morgendlichen Konferenz, wer an diesem Tag zu töten sei. Um eine Basis für die Entscheidung zu haben, hielt sie alle anderen Schwestern und Pfleger an, ihr Krankenakten auszuhändigen, die eine solche Entscheidung vermutlich „rechtfertigen“ würden. So landete auch die Akte von Erwin Fischer eines morgens im Büro von Dr. Wahlmann. Nachdem die Entscheidung gefallen war, schrieb Schwester Huber den Namen Fischer auf einen Zettel und gab diesen der diensthabenden Schwester oder einem Pfleger mit der Angabe der tödlichen Dosis, die in der Nacht zu verabreichen sei. In der Regel sagte sie dabei, wenn der Patient am nächsten Morgen wider Erwarten noch leben würde, solle „noch etwas nachgegeben“ werden. Als Erwin Fischer tot war, schrieb sie wie gewohnt als Todesursache diejenige auf, die laut Krankenakte am plausibelsten klang. Dass sie auch selbst Patienten „abgespritzt“ hatte, konnte ihr nicht nachgewiesen werden.

 

Handschriftliche Lüge: „Heute Exitus an Stat[us] Epilepticus“

Handschriftliche Lüge: „Heute Exitus an Stat[us] Epilepticus“

 

 

Unser Versuch, das Schicksal von Erwin Fischer, wie es sich in den Akten greifen lässt, einem späten Verwandten von ihm mitzuteilen, wird mit der Aufforderung, „die alten Geschichten doch endlich mal ruhen zu lassen“, zurückgewiesen.

von Arnulf Müller

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