„Das ist mir doch egal, wie alt ich bin!”
von Suria Reiche
„Wenn mir heute jemand sagen würde, ‚Dein Leben ist jetzt vorbei‘, dann wäre das schön. Ich freue mich auf diesen Augenblick“, sagt Eleonora Färber, als sie an einem heißen Tag im August im Garten des Marienheims in der Fuldaer Kanalstraße sitzt. Sie denkt an die hundert Jahre zurück, die sie auf dieser Welt gelebt hat – in denen sie nicht nur ihr Heimatland verlassen und einen Krieg erleben musste, sondern auch ihren Mann, für den sie einst nach Deutschland kam, mehrere Jahrzehnte lang gepflegt hat. „Und das würde ich immer wieder tun! Und wenn ich sterbe, dann sehe ich ihn wieder.“
Als Eleonora Färber im Mai dieses Jahres ihren hundertsten Geburtstag feierte, gratulierte ihr nicht nur der Oberbürgermeister ihrer heutigen Heimatstadt Fulda, auch einstige Schüler, die sie unterrichtet hatte, hatten sich angekündigt, um sie zu beglückwünschen. Dabei sei ihr Geburtstag für sie überhaupt kein besonderer Tag gewesen, sagt sie heute. „Ich habe mir überhaupt keine Gedanken über das Alter gemacht. Das ist mir doch egal, wie alt ich bin.“ Wichtig sei ihr etwas anderes: Nämlich, dass sie für die hundert Jahre, die sie gelebt hat, Verantwortung übernehmen kann. Für sich selbst und für das, was sie getan hat. „Ich habe jeden Menschen zu lieben und zu achten, auch den, der im größten Dreck liegt. Jeder ist mein Nächster. Wenn das alle so machen würden, dann wäre die Welt ein besserer Ort“, sagt sie und wird sogleich nachdenklich. „Wir haben doch kein Recht zu urteilen. Über niemanden.“ Eleonora findet auch, dass Respekt nicht nur gegenüber Menschen gefordert ist .
Fragt man sie, was ihrer Meinung nach der Grund dafür ist, dass sie schon ein ganzes Jahrhundert lebt, fällt ihr die Antwort nicht schwer: „Ich habe mein Leben lang viel Sport gemacht. Aber ich habe auch vegan gelebt. Ich liebe alle Tiere.“ Ein Gebot, fügt sie hinzu, laute, du sollest nicht töten. „Gott hat nicht gesagt, wen man nicht töten soll. Also meint er, dass man auch keine Tiere töten soll.“ In den vergangenen hundert Jahren hat Eleonora Färber viele Menschen kennengelernt, viel Leid gesehen, aber auch viel Schönes erlebt. An alles erinnert sie sich nicht mehr. Etwa daran, wie lange sie und ihr Mann verheiratet waren. „Aber das ist doch auch egal.“ Wichtig ist, dass sie ihn mehr als alles andere auf der Welt geliebt hat. Ihn sogar während der vielen Jahre, in denen er schwer erkrankt war, gepflegt hat. „Er war der beste Mann, den ich je kennengelernt habe. Der beste, den ich je hatte.“ Heute hängt ein Bild von ihm an der Wand ihres Zimmers im Marienheim. „Und wenn ich in großer Not bin, dann wende ich mich an ihn.“ Während Färber das sagt, beginnen ihre Augen zu leuchten und man bekommt eine leise Ahnung davon, was bedingungslose undewige Liebe ist. „Ja, ich habe ihn sehr geliebt. Und ich würde es wieder tun, wenn ich noch mal zur Welt kommen und ihn treffen würde.“ Eine Zugfahrt war es damals, die ihr Leben gehörig auf den Kopf stellen sollte. Denn da traf sie ihn. Den Mann, für den sie ihre bergige Heimat Österreich verließ. Das Land, in dem sie eines ganz besonders gern getan hat: Ski fahren. „Natürlich habe ich das gern getan“, antwortet sie, wenn sie gefragt wird, ob sie gern die Berge hinuntergefahren ist, „Ich bin doch Österreicherin.“ Besonders gut erinnert sich die Hundertjährige an die Tage im Winter, in denen sie mit ihren Skiern aus Salzburg, wo sie damals wohnte, zu ihrer Arbeitsstelle nach Straßwalchen gefahren ist. „Da habe ich als Lehrerin gearbeitet.“
Dass sie einmal eine solche werden würde, war schon in Kindheitstagen ihr Herzenswunsch. „Ich lag meiner Mama in den Ohren, dass ich Lehrerin werden wollte.“ Aber die Familie hatte nicht viel Geld. „Meine Mama hat gefragt, wie sie die Ausbildung bezahlen soll, als ich manchmal vor der Haustür saß, den Blumen Noten gegeben habe und ihr erzählte, wie gern ich Kinder unterrichten würde“, erinnert sich Färber. Irgendwann sei ihre Mama dann zu einem Professor gegangen und habe ihm davon erzählt. Und der Professor half dann der Familie. „So bin ich Lehrerin geworden, obwohl eigentlich kein Geld dafür da war. Das sind die kleinen Wunder, die es gibt“, sagt Färber und lächelt. „Ich hoffe, ich habe das gut gemacht. Denn wer weiß, irgendwann muss ich vor Gott treten und mich für das, was ich in meinem Leben getan habe, verantworten.“ Während Eleonora Färber das sagt und von den Schwestern des Marienheims zustimmende Worte bekommt, wird sie ein wenig verlegen. „Ach, ich will mich doch nicht selbst loben“, entfährt es ihr dann, als eine der Schwestern erzählt, wie selbstverständlich die ehemaligen Schüler an Färbers hundertstem Geburtstag gekommen sind, um ihr zu gratulieren. „Sie waren eine tolle Lehrerin. Und wissen Sie auch, warum? Sie haben sich um die Schwächeren in den Klassen gekümmert.“ Die waren es, die Eleonora Färber besonders am Herzen lagen. „Die sind so dankbar.“ Besonders dankbar seien sie auch gewesen, wenn Färber an Samstagen mit ihnen auf die Wasserkuppe zum Skifahren gegangen sei. „Aber das habe ich nur gemacht, wenn sie mich unter der Woche nicht geärgert haben.“ Ein Lachen entfährt ihr, als sie daran denkt. „Das Wichtigste im Leben ist doch, mit gutem Beispiel voranzugehen und in jedem Menschen das Gute zu sehen.“ Auch wenn es manchmal versteckt sei, sei es da. „Im Grunde seines Herzens ist doch jeder Mensch gut. Sonst wäre er doch nicht auf der Welt.
Die Umwelt macht manche nur zu dem, was sie sind.“ Eleonora Färber hat ihr ganzes Leben nach einem wichtigen Motto gelebt: „Hört auf euer Gewissen! Bleibt immer bei der Wahrheit. Und das, was ihr sagt, soll Gutes in die Welt hinaustragen.“ Das sagt sie mit viel Ausdruck in der Stimme und schaut dann auf das, was hinter dem Garten des Marienheims liegt. „Das ist die Severikirche. Ist das nicht ein herrlicher Ausblick?“
„Ein herrlicher Ausblick": Die Severikirche in Fulda